Die Soldaten zählen herunter: «Fünf, vier, drei, zwei, eins.» Dann gibt es eine ohrenbetäubende Explosion, dichte Rauchwolken steigen in die Luft. Ein Soldat jubelt.
Szenen wie diese sind laut Recherchen der «New York Times» in den vergangenen Monaten im Gazastreifen häufiger vorgekommen. Israelische Soldaten sollen Hunderte zivile Gebäude mittels kontrollierter Sprengungen zerstört haben. Dazu zählen laut dem Bericht auch Moscheen, Schulen und ganze Abschnitte in zivilen Wohngegenden.
Für die Recherche hat die «New York Times» mehr als 30 Videos ausgewertet, die solche Explosionen zeigen. Es könnte sich dabei nur um einen Bruchteil der eigentlichen Zerstörung handeln.
Die Soldaten betreten die Zielgebäude und platzieren darin Minen oder andere Sprengsätze. Dann begeben sie sich in sichere Entfernung, um von dort aus den Zünder zu betätigen. In den meisten Gebieten räumen die Soldaten die betreffenden Gebäude vorher aktiv, heisst es in dem Bericht. Während aktiver Kampfhandlungen sei das oft jedoch nicht möglich. So könnten auch Zivilisten in Gefahr geraten.
Israelische Beamte sagten der «New York Times», dass die Zerstörung vor allem der Errichtung eine «Pufferzone» entlang der Grenze des Gazastreifens dienen soll. Mit dieser wolle man verhindern, dass Hamas-Terroristen erneut einen Überfall auf Israel unternehmen können wie am 7. Oktober 2023. Ausserdem nehme man damit «terroristische Infrastruktur» ins Visier, die sich in den Gebäuden befinden könne. Manchmal seien ganze Wohnviertel «Kampfkomplexe» der Terrororganisation Hamas, erklärten die Beamten demnach.
Doch wie die Zeitung herausgefunden haben will, haben die meisten der Explosionen nicht entlang oder innerhalb der Pufferzone stattgefunden, sondern an weit davon entfernten Orten. So seien im November mindestens vier mehrgeschossige Wohnhäuser nahe einem Krankenhaus in Gaza-Stadt zum Einsturz gebracht worden. Im Dezember haben die israelischen Streitkräfte dem Bericht zufolge sogar mehr als ein Dutzend Gebäude rund um den Palästina-Platz im Zentrum von Gaza-Stadt zerstört.
Im Gazastreifen ist nach einer Auswertung des UN-Satellitenzentrums (UNOSAT) innerhalb der vergangenen drei Monate nahezu jedes dritte Gebäude (rund 30 Prozent) zerstört oder beschädigt worden. UNOSAT legte am Freitag seine zweite Auswertung vor. Dafür wertete das Zentrum Satellitenbilder vom 6. und 7. Januar aus und verglich sie mit Aufnahmen von Mai, September, Oktober und November 2023.
Nach Angaben von UNOSAT sind gut 22'000 Gebäude aller Art zerstört, gut 14'000 schwer und fast 33'000 leicht beschädigt worden. Betroffen seien fast 94'000 Wohneinheiten. Die US-Universitäten City University of New York und der Oregon State University hatten nach einem BBC-Bericht diese Woche deutlich höhere Zahlen genannt. Sie sprachen nach dem Bericht von 144'000 bis 175'000 zerstörten oder beschädigten Gebäuden. Mit Bezug aus US-Geheimdienstinformationen meldete das «Wall Street Journal» bereits Ende Dezember, dass schon damals sogar 70 Prozent der Gebäude zerstört oder beschädigt gewesen seien.
The IDF says it is probing the approval process of a controlled explosion of a university campus in the Gaza Strip last week.
— Emanuel (Mannie) Fabian (@manniefabian) January 21, 2024
Footage widely shared on social media showed a massive blast at Israa University, prompting the Biden administration to ask Israel for clarifications.… pic.twitter.com/fkmcuViwM7
Die Zeitung meldete, dass Israel bis Mitte Dezember gut 29'000 Bomben auf den Gazastreifen abgeworfen hatte. Auch diese Luftangriffe haben zu grosser Zerstörung geführt. Die «New York Times» schreibt jedoch, dass es sich bei den kontrollierten Explosionen um «einige der zerstörerischsten Einzelereignisse» der israelischen Militäroperation in dem Palästinensergebiet handele. Einige der Vorgänge werden laut Angaben der Streitkräfte bereits «geprüft».
Darunter falle laut «New York Times» die Zerstörung der Israa-Universität Mitte Januar. Laut der ersten Einschätzung der israelischen Streitkräfte habe die Hamas das Gebäude sowie die Umgebung «für militärische Aktivitäten» genutzt. Marco Sassòli, Professor für internationales Recht in Genf, sagte der «New York Times» dazu:
Solche Zerstörungen dürften nur durchgeführt werden, wenn sie für die Militäroperation absolut notwendig seien.
Die israelische Armee wehrte sich gegen Vorwürfe, dass die betreffenden Gebäude keine militärischen Ziele seien. Ein Sprecher sagte der «New York Times», dass alle Entscheidungen für Aktionen des Militärs «auf militärischer Notwendigkeit» basieren und «in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht» durchgeführt würden.
Nach UN-Angaben sind 1.7 der rund 2.2 Millionen Einwohner des Gazastreifens durch Kämpfe und Evakuierungsaufrufe Israels auf der Flucht. Besonders viele halten sich in der Stadt Rafah im Süden des Küstenstreifens auf. Sie leben nach UN-Angaben unter katastrophalen Umständen, teils unter freiem Himmel, ohne Toiletten und ohne ausreichende Ernährung.
Zwar stünden genügend Nahrungsmittel und Wasser für die gesamte Bevölkerung in Lastwagen an den Grenzen bereit, aber Israel erteile vielen Konvois keine Einfahrtgenehmigung. Israel widerspricht dieser Darstellung. Andauernde Kämpfe verhinderten zudem die Auslieferung an Hunderttausende Menschen.
(Mit Material der Nachrichtenagentur dpa)