Wie Israels Geiseln mit dem Leben nach der Gefangenschaft ringen
Die letzten zwanzig noch lebenden Hamas-Geiseln sind frei. Die Bilder junger Männer, die in die Arme ihrer Familien laufen, gingen am Montag um die Welt. So wie das von Avinatan Or, wie er seine Freundin, Noa Argamani, vor Freude gleich umrennt. Die Entführung der beiden vom Nova-Festival hatten Hamas-Terroristen in einem Video vor zwei Jahren geteilt. Argamani wurde im Sommer 2024 vom israelischen Militär gerettet. Oder das von Matan Zangauker, dessen Mutter ihm «Mein Leben, Mein Leben!», zuschreit, als sie ihn sieht.
Ein emotionaler Moment
In Israel wurde gefeiert, als wäre es ein Nationalfeiertag.
«Es war ein emotionaler Moment», sagt Yoni Asher. Für ihn wecken die Szenen Erinnerungen an den Tag, an dem er selbst seine Familie wieder umarmen konnte.
Auf der Titelseite der «New York Times»
Seine beiden kleinen Töchter – damals vier und zwei Jahre alt – und seine Frau Doron wurden am 7. Oktober 2023 von Hamas-Terroristen verschleppt. Nach knapp 50 Tagen kamen sie frei. Das Foto ihrer Wiedervereinigung erschien auf der Titelseite der «New York Times». «Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, zwei Jahre auf sein Kind zu warten», sagt Asher im Gespräch mit CH Media
Dass die Angehörigen in ihrer Freude über die Freilassung nicht allein sind, mache die Situation aufregend – aber auch komplizierter, sagt Asher. In den Tagen nach der Rückkehr seiner Familie erhielt er unzählige Anrufe, Gratulationen, Umarmungen auf der Strasse. «Die Leute hielten uns an, wollten Fotos machen, uns umarmen», erzählt er.
Prominente Medienanfragen
Dazu kamen massenhaft Medienanfragen und Einladungen, sogar von Joe Biden und Donald Trump. Die Aufmerksamkeit sei überwältigend gewesen, sagt Asher. Er lehnte die meisten Anfragen ab – und rät das nun auch den Angehörigen der zuletzt Freigelassenen: «Hört auf euer Bauchgefühl. Das Wichtigste ist jetzt, füreinander da zu sein – vor allem für diejenigen, die zurückgekehrt sind.»
Expertinnen und Experten warnen seit Langem vor den komplexen medizinischen und psychischen Bedürfnissen der Befreiten. Um sie angemessen zu versorgen, richtete das Rabin Medical Center in Petah Tikva nach dem 7. Oktober Israels erste spezialisierte Einheit für zurückgekehrte Geiseln ein. Dort kümmern sich Physio-, Sprach- und Ergotherapeutinnen, Psychologinnen und Ernährungsberater um die zurückgekehrten Geiseln. Auch für Angehörige stehen Zimmer bereit. Zudem hat die israelische Regierung Willkommenspakete für die zurückgekehrten Geiseln vorbereitet. Darin enthalten: Ein Handy, ein Laptop, persönliche Gegenstände, Kleidung und handgeschrieben Botschaften von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu und dessen Frau Sara.
Wiederherstellung der Identität
Wie das Hostages and Missing Families Forum am Montag erklärte, endet der Prozess nicht mit der Freilassung, «er beginnt mit ihr». Einige der freigelassenen Geiseln haben während des Terroranschlags am 7. Oktober 2023 ihr Zuhause verloren. Nach zwei Jahren «unter unmenschlichen Bedingungen» bräuchten sie jetzt vor allem «die Wiederherstellung ihrer Identität als Menschen, nicht als Geiseln», so das Forum weiter.
Der Punkt ist auch Asher wichtig. «Ich ziehe meine Töchter als Siegerinnen gross, nicht als Opfer», sagt er. Dass die Arbeit nach der anfänglichen Euphorie erst richtig losgeht, hat der 38-Jährige selber merken müssen.
«böse Menschen auf Traktoren»
Seit der Rückkehr seiner Familie kämpft er mit ständiger Angst um seine Mädchen. «Fast zwei Jahre nach ihrer Rückkehr wachen meine Töchter immer noch mehrmals in der Nacht auf, weil sie Albträume haben», sagt Asher. In denen würden sie von «bösen Menschen auf Traktoren» geholt. Ausserdem hätten sie Probleme damit, ihre Emotionen zu regulieren.
«Ich versuche, mich immer auf ihre Gefühle und ihr Verhalten zu achten», sagt Asher. Das sei nicht immer einfach. Seine Beziehung zu seiner Frau zerbrach an den Folgen der Entführung. «Es war einfach zu viel», sagt er. Um näher bei seinen Töchtern zu sein, zog er kürzlich näher zu ihnen.
Der Immobilienunternehmer ist aber optimistisch: Jetzt, wo alle verbleibenden Geiseln befreit, und die Verstorbenen langsam zurückgebracht werden, können die Familien, die ihre Liebsten zurückbekommen haben, heilen. (aargauerzeitung.ch)