Seenotretter klagen: «Meloni benutzt Menschenleben als Druckmittel»
«Uns läuft die Zeit davon», sagt Caroline Abu Sa'Da, Geschäftsführerin der Organisation SOS Méditerranée. Ihre Worte klingen eindringlich. Sie ist besorgt um die Gesundheit der Geflüchteten sowie um die Sicherheit ihrer Crew. «Der psychologische Stress könnte bald so gross werden, dass die Situation an Bord ausser Kontrolle gerät», sagt die Genferin.
Zwei Wochen zuvor: Das Rettungsschiff Ocean Viking ist seit drei Tagen auf hoher See im Mittelmeer, als die rechtsextreme Giorgia Meloni am 22. Oktober ins Amt der neuen Ministerpräsidentin Italiens eingeschworen wird.
Zwei Tage später lässt der neue Innenminister Matteo Piantedosi verkünden, dass italienische Häfen fortan gesperrt seien für private Rettungsschiffe. «Wir können uns nicht jener Migranten annehmen, die auf See von ausländischen Schiffen an Bord genommen werden», sagte er gegenüber dem Corriere della Sera.
«So etwas haben wir noch nie erlebt»
Davon erfahren hat SOS Méditerranée erst aus der Presse. Am 26. Oktober führte die Ocean Viking zwei weitere Rettungen durch, 234 Personen sind nun an Bord. Davon 60 Minderjährige, die meisten unbegleitet. «Die Geretteten sind völlig erschöpft und psychisch angeschlagen. Manche von ihnen benötigen umgehend medizinische Hilfe», sagt Abu Sa'Da.
Die ersten Geretteten sind seit fast zwei Wochen an Bord. «Das haben wir noch nie erlebt. Auch unter Salvini oder Draghi war es schwierig, ja. Wir mussten uns vier oder fünf Mal melden, bis wir die Ausschiffung koordinieren konnten.» Seit Meloni an der Macht sei, würden sie aber einfach ignoriert. Zwölfmal habe man die Schifffahrtsbehörden kontaktiert. Vergebens. In Malta habe man es ebenfalls probiert. Doch die Malteser würden Rettungsschiffe seit über drei Jahren komplett ignorieren.
«Italien verletzt das Seerecht»
Im zentralen Mittelmeer befinden sich derzeit noch zwei weitere private Rettungsschiffe, die «Humanity 1» und die «Geo Barents». Insgesamt warten fast 1000 gerettete Personen auf die Zuweisung eines sicheren Hafens.
Der italienische Innenminister Matteo Piantedosi wirft den NGOs vor, nicht mit den Behörden zu kooperieren. Ausserdem sollten sich jene Länder um die Rettung kümmern, unter deren Flagge die betreffenden Rettungsschiffe operierten. Die Ocean Viking fährt unter norwegischer Flagge.
Die Vorwürfe weist die Geschäftsführerin von SOS Méditerranée entschieden zurück. «Seit unserer Gründung setzen wir auf Kooperation und totale Transparenz». So könnten alle Bewegungen des Schiffes live online verfolgt werden. Die Ocean Viking wäre zudem noch nie ohne Erlaubnis in die Hoheitsgewässer eines Staates eingedrungen.
Die Koordination einer Seenotrettung liege zudem in der Verantwortung jenes Staates, welcher sich am nächsten zu den in Seenot geratenen Personen befindet. «Dass Italien diese Verantwortung nicht wahrnimmt, verletzt internationales Seerecht.»
Auch der bekannte Publizist Roger de Weck kritisiert das Verhalten der italienischen Behörden aufs Schärfste. Der ehemalige SRG-Generaldirektor engagiert sich seit letztem Jahr im Vorstand von SOS Méditerranée. «Es ist seit der Antike eine Tradition und heute ein Gebot des Menschen- und des Seerechts, dass man Schiffbrüchige rettet und human behandelt.» Wenn in Seenot geratene Personen an Bord seien, müsse man sie an Land lassen. Alles andere stünde im krassen Widerspruch zum Seerecht.
Menschenleben als Druckmittel
Doch was will Italien mit der Funkstille bezwecken? Caroline Abu Sa'Da hat sich ihre Meinung dazu bereits gebildet: «Die italienische Regierung will Druck auf andere europäische Staaten aufbauen. So will sie die Diskussion über die Verteilung von Flüchtlingen wieder aufleben lassen.» Seit drei Jahren liege diese nämlich auf Eis.
Diese Diskussion würde auch Abu Sa'Da begrüssen, denn Italien leide unverhältnismässig stark unter den Flüchtlingsströmen im Mittelmeer. «Aber dafür Menschenleben als Druckmittel zu verwenden, ist sowohl inhuman als auch gegen das Gesetz.»
Kapitän müsste Notstand ausrufen
Lange hat die Ocean Viking nicht mehr Zeit, um einen sicheren Hafen zu finden. Es gebe noch Verpflegung für 10 Tage an Bord. Spätestens dann müsse man etwas gefunden haben, sagt Abu Sa'Da. Besser wäre früher, denn die Lage an Bord sei angespannt.
Zeige sich kein Land kooperativ, «so wird der Kapitän der Ocean Viking den Notstand erklären müssen. So können wir ohne Erlaubnis in italienisches Hoheitsgewässer eindringen und anlegen». Doch das wolle niemand. Die Crew würde die Verhaftung riskieren. «Das würde bedeuten, dass hunderte andere Menschen ertrinken.»
