Aus ganz Europa kommen die Anrufe. Der deutsche Bundeskanzler Scholz, der französische Staatspräsident Emanuel Macron, EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen: Sie alle sollen Mario Draghi in den letzten Tagen kontaktiert haben, in der Hoffnung, ihn noch umstimmen zu können. Dies berichteten in diesen Tagen die italienischen Medien, die sich auf Indiskretionen aus den Römer Regierungspalazzi berufen.
Fest steht, dass die Rücktrittsankündigung des italienischen Premiers in den Staatskanzleien der halben Welt und ganz besonders in der EU-Zentrale in Brüssel höchste Alarmstufe ausgelöst hat: Was passiert mit dem hochverschuldeten, politisch notorisch instabilen Land, wenn der Stabilitätsanker Draghi, der Garant für finanzpolitische Ernsthaftigkeit und europäische und atlantische Verlässlichkeit, von Bord geht?
Das fragt man sich auch in Italien selber. Bereits haben über Tausend Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im ganzen Land - darunter jene von Rom, Mailand, Genua, Turin und Venedig - in einem offenen Brief an Draghi appelliert, auf seinen Rücktrittsentscheid zurückzukommen.
«Ein Sturz der Regierung Draghi würde zahlreiche Investitionen zugunsten der Bürgerinnen und Bürger in Frage stellen», heisst es in dem Aufruf, dem sich auch schon einige Regionalpräsidenten angeschlossen haben. Die lokalen Behörden fürchten insbesondere um die Gelder aus dem EU-Recovery-Fund, mit dem zahlreiche neue, moderne Infrastrukturen finanziert und marode Einrichtungen - etwa die löchrigen Wasserversorgungen - saniert werden sollen. Die nächsten Tranchen der insgesamt über 200 Milliarden Euro für Italien werden von Brüssel nur freigegeben, wenn Italien von Draghis Reformpfad nicht abweicht.
Auch die Zivilgesellschaft hält den Atem an. In einer Umfrage haben sich 53 Prozent der Befragten gegen Neuwahlen ausgesprochen. Eine Petition für den Verbleib Draghis im Amt, die von Ex-Premier Matteo Renzi online lanciert wurde, ist in wenigen Stunden von über 70'000 Bürgerinnen und Bürgern unterzeichnet worden.
«Die Fünf-Sterne-Bewegung hat auf unverantwortliche Weise eine absurde Situation geschaffen, die im Gegensatz zum Interesse der Italienerinnen und Italiener steht, ganz besonders in einem derart heiklen internationalen Kontext», heisst es in Renzis Petition. An diesem Montag wollen in Rom auch Studenten und Dozenten für einen Verbleib Draghis demonstrieren. Der frühere Präsident der EZB hat der Bildung in seiner Regierungspolitik immer eine hohe Priorität eingeräumt.
Einen derartigen nationalen Gefühlsausbruch zugunsten eines abtretenden Ministerpräsidenten hat es in Italien, wenn überhaupt, lange nicht gegeben. Es ist anzunehmen, dass den 74-jährigen Draghi die unzähligen Appelle aus dem In- und Ausland für einen Verbleib im Amt und die darin zum Ausdruck kommende Wertschätzung, aber auch die grosse Besorgnis von Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, nicht ungerührt lassen.
Draghi liebt sein Land und will ihm helfen: Er hat sich einmal als «Nonno (Grossvater) im Dienst der Institutionen» bezeichnet. Aber objektiv gesehen besteht nur wenig Hoffnung, dass er sich in den verbleibenden 48 Stunden noch wird umstimmen lassen.
Zumal die politischen Spielchen in Rom weitergehen. Und mit ihnen die Ultimaten und gegenseitigen Vetos in seiner Koalition, die Draghi das Regieren zunehmend verunmöglichten und auch verleideten, haben weiterhin Hochkonjunktur.
Unruhestifter Nummer eins bleibt der Chef der Fünf-Sterne-Protestbewegung, Ex-Premier Giuseppe Conte, der mit dem Boykott einer Vertrauensabstimmung am Donnerstag das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Aber auch Lega-Chef Matteo Salvini, der unverblümt auf Neuwahlen - und damit auf ein definitives Ende der Regierung - hinarbeitet, trägt wenig dazu bei, die Meinung Draghis über die Verlässlichkeit der Parteien zu verbessern. Wenn in Rom nicht noch ein politisches Wunder passiert, dürfte am Mittwoch, wenn sich Draghi im Parlament erklären wird, die Regierung der nationalen Einheit nach 16 Monaten am Ende sein.
Mario Draghi seinerseits hüllt sich seit seinem Rücktritt in Schweigen: Er hat sich nach Città della Pieve in den Hügeln Umbriens zurückgezogen, wo die Familie seit 15 Jahren ein Landhaus besitzt. Dort bereitet er seinen Diskurs vor, den er im Parlament halten wird - und bei dem für sein Land und für Europa, so viel auf dem Spiel stehen wird. (aargauerzeitung.ch)