Campobello di Mazara ist eine verschlafene, unscheinbare Kleinstadt im Südwesten Siziliens: 11'000 Einwohner, staubige Strassen voller Schlaglöcher, einige Bars, ein ärmlich wirkendes Gemeindehaus, vier Kirchen.
Doch plötzlich herrscht in dem beschaulichen Ort höchste Betriebsamkeit: Unzählige Ermittler durchsuchen Wohnungen und Verstecke, mehrere TV-Teams berichten über jeden Schritt der Staatsanwälte. In dem Städtchen hatte der meistgesuchte und gefährlichste Mafiaboss Italiens, Matteo Messina Denaro, die letzten Jahre seiner 30-jährigen Flucht verbracht, bevor er am vergangenen Montag in einem Spital von Palermo verhaftet wurde.
In Campobello di Mazara, das nur fünf Kilometer von Messina Denaros Geburtsort Castelvetrano in der Provinz Trapani entfernt liegt, führte der Mafioso ein mehr oder weniger normales Leben, völlig ungestört: Er ging - wenn auch unter falschem Namen - einkaufen, erledigte Bankgeschäfte, grüsste die Dorfpolizisten und schwatzte mit den Nachbarn. «Er war immer nett und höflich», sagen die Einheimischen.
«Die Verhaftung von Messina Denaro ist ein wichtiger, ein grosser Erfolg für den italienischen Rechtsstaat: Immerhin handelt es sich bei ihm um den letzten bedeutenden Boss der Cosa Nostra», betont Francesco Forgione. Der ehemalige Präsident der parlamentarischen Anti-Mafia-Kommission in Rom gilt als einer der versiertesten Mafia-Experten des Landes.
«Gleichzeitig macht es natürlich sprachlos, dass Messina Denaro jahrelang in seiner Heimat ein normales Leben führen konnte», betont Forgione. Die Erklärung dafür liefert er gleich selber: «Er konnte sich auf die ‹omertà›, die mafiöse Verschwiegenheit, und auf ein verlässliches Sicherheitsnetz verlassen, das ihm die ‹borghesia mafiosa› der Stadt aufgespannt hat.» Diese «mafiöse Bourgeoisie» bestehe aus Freimaurern, Unternehmern und Lokalpolitikern, die nicht Mitglied der Cosa Nostra seien, aber mit ihr gemeinsame Sache machten.
Allerdings, betont Forgione, habe sich in Campobello di Mazara und in Castelvetrano am Tag der Verhaftung der Superpaten noch etwas anderes ereignet: «Hunderte von Bürgerinnen und Bürger, vor allem junge, sind auf die Strasse geströmt, um die Festnahme des Bosses zu feiern», betont der Mafia-Experte. Sie hätten keine Angst mehr vor den Clans.
Nächste Woche ist in den beiden benachbarten Kleinstädten eine offizielle Feier geplant: Am 25. Januar werden die Einwohner losmarschieren und sich auf halbem Weg zwischen den beiden Orten treffen, kündigt der Bürgermeister von Campobello di Mazara, Giuseppe Castiglione, an: «Unter den Leuten herrscht sehr viel mehr Freude als Angst, viele meiner Mitbürgerinnen und Mitbürger sagen mir in diesen Tagen nur ein Wort: Endlich!»
In der Tat ist in Italien viel passiert, seit die beiden Superbosse Toto Riina und Bernardo Provenzano und ihr verlässlichster Killer, Matteo Messina Denaro, im Jahr 1992 die beiden Anti-Mafia-Richter Giovanni Falcone und Paolo Borsellino ermordeten und den Staat mit Bombenanschlägen herausforderten. «Wir haben Gesetze und Instrumente entwickelt, über die sonst kaum ein anderer Staat bei der Bekämpfung des organisierten Verbrechens verfügt», betont Forgione.
Er erinnert an die Einführung des Artikels 41bis, der lebenslange Isolationshaft für verurteilte Bosse vorsieht - ohne die Möglichkeit, einer vorzeitigen Entlassung. Der Tatbestand der «Begünstigung der Mafia» erlaubt es ausserdem den Behörden, auch Personen jahrelang einzusperren, denen keine Straftat nachgewiesen werden kann - es reicht, dass sie den Clans in irgendeiner Form geholfen haben.
Die Justiz trifft die Clans auch dort, wo es ihnen am meisten wehtut: bei ihrem Vermögen. 1996 wurde ein Gesetz erlassen, das den Behörden erlaubt, private Vermögen und Ländereien von Mafiosi zu konfiszieren und an gemeinnützige Organisationen zu übergeben. Seither hat der Staat Mafia-Güter im Gesamtwert von über 30 Milliarden Euro beschlagnahmt: Hotels und Ferienanlagen, Villen und Pizzerien, Gutshöfe, Wald und Wiesen.
«Die Cosa Nostra befindet sich in einer tiefen Krise», betont Mafia-Spezialist Forgione. Die «Strategie der Blutbäder» der «Corleonesi» sei gescheitert, die Anführer entweder tot oder in Isolationshaft. Die Mafia mordet (fast) nicht mehr: In den 80er- und 90er-Jahren starben in Italien jedes Jahr 500 bis 600 Menschen durch die Hand der Clans, im Rekordjahr 1991 zählte man über 1900 Tote.
Heute liegt die Zahl der Mafia-Morde noch bei knapp zwei Dutzend jährlich, und fast immer handelt es sich dabei um interne Abrechnungen: Die Mafia dezimiert sich selber. Der letzte Polizisten- oder Richtermord liegt Jahre zurück, und Palermo, die einst als «Schiessstand der Cosa Nostra» verschriene Hauptstadt Siziliens mit ihren 700'000 Einwohnern, hatte 2019 die tiefste Mordrate Italiens.
Messina Denaro sei einer der Ersten gewesen, der eingesehen habe, dass es für die Mafia vorteilhafter ist, wenn sie das Töten einstellt, abtaucht und unbemerkt im Hintergrund ihren Geschäften nachgeht, sagt Forgione. Unter ihm habe sich die Cosa Nostra von einer Bauern-Mafia zu einer kapitalistischen Unternehmer- und Finanzmafia gewandelt, die in Windkraftanlagen, Supermärkte und in Privatkliniken investiere - eben mit der Hilfe der mafiösen Bourgeoisie, die sie dabei unterstützt und mitverdient.
Über 30 Milliarden Umsatz jährlich machen die Clans laut Angaben der nationalen Anti-Mafia-Direktion allein im Inland. Und längst hat die Mafia, vor allem die 'Ndrangheta, ihre Aktivitäten ins Ausland diversifiziert, wie Forgione schon 2009 in seinem Buch «Mafia Export» nachwies.
Aus dem Krebsgeschwür, an dem der befallene Organismus stirbt, ist ein Parasit geworden, der sich von seinem Wirt ernährt, ohne ihn zu töten. Aber der Wirt, also die italienische Gesellschaft, hat Abwehrkräfte entwickelt. Auch in den kleinen sizilianischen Orten Campobello di Mazara und Castelvetrano, wo die Bosse vor zwanzig Jahren noch alles kontrollierten - und wo die Menschen nun keine Angst mehr haben.
Was mir zu denken gibt ist die Fahrlässigkeit in der Behörden in Mittel- und Nordeuropa. Namhafte italienische Mafiajäger haben gewarnt, dass sich hier die Mafia einnistet (nicht zwingend die italienische Mafia) und die Politik pennt einfach, bis das böse Erwachen kommt.