Die weltweiten Kinder-Impfungen retten gemäss dem heute veröffentlichen Unicef-Bericht «State of the World's Children 2023» jedes Jahr 4,4 Millionen Menschenleben. Bis 2030 soll diese Zahl dank der Impfungen sogar auf 5,8 Millionen steigen. Die Wirkung der Routineimpfungen zeigt sich exemplarisch bei den Masern. Vor der Einführung des Impfstoffs im Jahr 1963 starben weltweit jedes Jahr rund 2,6 Millionen Menschen an Masern, vor allem Kinder. Bis 2021 ist die Zahl gemäss der Unicef auf 128'000 gesunken.
Doch der Schutz vor tödlichen Krankheiten wie Kinderlähmung (Polio), Masern und vielen mehr ist in Gefahr, weil weltweit die Impfquoten zurückgehen, wie der Unicef-Bericht zeigt. Insbesondere in armen und medizinisch unterversorgten Weltgegenden sind die Impfquoten rückläufig.
Das hat zum einen mit der Pandemie zu tun. Das Kinderhilfswerk der UNO schätzt, dass zwischen 2019 und 2021 67 Millionen Kinder die Routineimpfungen ganz oder teilweise verpasst haben. Die Impfraten sanken auf ein Niveau wie seit 2008 nicht mehr. Die Gesundheitssysteme waren oft überlastet, und der Mangel an Gesundheitspersonal hat sich verschärft. Die Empfehlung, zu Hause zu bleiben, hat Eltern dazu veranlasst, die Standardimpfungen aufzuschieben.
Zum anderen sind aber auch vor der Pandemie zu viele Kinder nicht geimpft gewesen, wie die Unicef im Bericht schreibt. Vor allem in armen, medizinisch unterversorgten Staaten. Aber auch in reicheren Ländern ist nicht alles gut. Dort sind die Impfungen gegen Kinderlähmung und Starrkrampf während der Pandemie zwar nur geringfügig zurückgegangen. «Aber in vielen dieser Länder ist die Durchimpfung gegen Masern suboptimal, was sie einem Risiko für künftige Masernausbrüche aussetzt», sagt Jürg Keim von Unicef Schweiz und Liechtenstein.
Erst 2019 kam es in der europäischen Region zu einem Masern-Notfall, bei dem in einem Zeitraum von 17 Monaten über 160'000 Fälle gemeldet wurden. Auch in der Schweiz gab es damals zwei Maserntote. Selbst ein kleiner Rückgang der Durchimpfungsrate könne zu einem Ausbruch vermeidbarer Krankheitsfälle führen. So ist es wieder zu Polio-Fällen in England und den USA gekommen, die als poliofrei galten.
Die Impfmüdigkeit ist nach der Weltgesundheitsorganisation WHO eine der grössten Bedrohungen der öffentlichen Gesundheit. Vor allem in jüngeren Altersgruppen scheint das Vertrauen in Impfstoffe weltweit stärker zurückgegangen zu sein. Corona hat das verstärkt, weil gemäss der Unicef wegen der Pandemie weltweit viel mehr Menschen im Internet nach Informationen gesucht haben. Das öffnete Tür und Tor für Falschinformationen und bewusste Desinformation.
Die Mischung aus Fake News in sozialen Medien und der zunehmenden Polarisierung in Impffragen führte in vielen Gesellschaften zu einem schwindenden Vertrauen in Fachwissen. «Die Impfmüdigkeit und damit verbundene Fehlinformation ist heute eine der Hauptursachen für die Unterimpfung in der ganzen Welt», sagt Keim.
Der Unicef-Bericht listet einige Beispiele von Falschinformationen auf, welche das Vertrauen in Impfungen beeinträchtigt haben. Im Jahr 1998 wurde ein Artikel veröffentlicht, der einen Zusammenhang des Impfstoffs gegen Masern, Mumps und Röteln (MMR) mit Autismus herstellte. Der Artikel wurde bald als Fake News entlarvt und später zurückgezogen. Die Verbreitung in den Medien hielt die Fehlinformation am Leben und sorgte vor allem im Ursprungsland England für sinkende Impfquoten.
Die fatalen Auswirkungen von Fake News zeigten sich 2019 auch in Pakistan. In einem inszenierten Video wurde behauptet, eine Polio-Impfung habe Kinder ins Spital gebracht. Das gefälschte Video mit Kindern in Spitalbetten führte dazu, dass Zehntausende von Eltern ihre Kinder grundlos ins Krankenhaus brachten und ein Mob eine Klinik in Peshawar in Brand setzte und dabei drei Menschen tötete.
Die Verbreitung genauer Informationen und die Eindämmung der Verbreitung von Fehlinformationen sei deshalb von entscheidender Bedeutung, um sicherzustellen, dass jedes Kind mit lebensrettenden Impfstoffen geschützt sei, sagt Keim.
Der Glaube an Gerüchte und Verschwörungstheorien über Impfstoffe sei oft ein Ausdruck von Ängsten und Befürchtungen der Bevölkerung. Sie entstehen in der Regel vor allem in Zeiten sozialer Unsicherheit.
Verschwörungstheorien erlebten ihre Blüten oft nach Revolutionen, zum Beispiel nach der Russischen Revolution, als die Idee einer internationalen jüdisch-bolschewistischen Verschwörung populär wurde. «In vielen Ländern ist zudem das mangelnde Vertrauen in wichtige Institutionen, die an der Herstellung, Lieferung und Verteilung von Impfstoffen beteiligt sind, ein entscheidender Bestandteil der Skepsis», sagt Keim.
Mehrere Studien haben gemäss dem Unicef-Vertreter einen Zusammenhang zwischen der zögerlichen Haltung gegenüber Impfstoffen und dem populistischen Misstrauen gegenüber politischen Eliten und medizinischen Experten nachgewiesen. So wurde beispielsweise 2019 in einer EU-Studie ein deutlich positiver Zusammenhang zwischen der Unterstützung populistischer Parteien bei Wahlen und einem geringen Vertrauen in die Bedeutung und Wirksamkeit von Impfstoffen festgestellt. Wenn das Vertrauen auf Impfstoffe aber durch Falschinformationen einmal erschüttert ist, ist es schwierig, bei diesen Menschen das Vertrauen mit wissenschaftlichen Fakten zurückzugewinnen.
Desinformationen über soziale Medien gibt es auch in der Schweiz und das verstärkte sich während der Pandemie. Und auch bei uns ist die Zahl an verabreichten Impfdosen während der Pandemie zurückgegangen, wie Anita Niederer, Infektiologin am Ostschweizer Kinderspital, und Christoph Berger vom Kinderspital Zürich bestätigen.
Allerdings nicht so ausgeprägt wie in den anderen Ländern. «Wir hatten in der Schweiz nur einen kurzen Lockdown und viel kürzere Schulschliessungen als im Ausland», sagt Berger, der auch Präsident der Impfkommission ist. Dieser offenere Umgang mit der Pandemie habe dazu beigetragen, dass der Rückgang bei den Standard-Impfungen während der Pandemie klein blieb.
«Über die letzten 20 Jahre haben die Masern-Mumps-Röteln-Impfungen sogar zugenommen», sagt Anita Niederer. Die Impfquote ist gemäss dem BAG von 2005 bis 2020 von 70 auf über 90 Prozent angestiegen. «Wir kommen dem 95-Prozent-Ziel bei den Masernimpfungen immer näher», sagt Berger. 95 Prozent Durchimpfungsrate sind das Ziel, weil man so die Masern in einem Land ausrottet. Das Gleiche gilt auch für die Kinderlähmung, welche als Kombinationsimpfung mit Starrkrampf und Diphtherie geimpft wird. Die Durchimpfung ist sogar noch höher als bei Masern.
Diese Zunahme zeige, dass sich die ganz grosse Mehrheit der Schweizer Eltern für eine Kinderimpfung entschieden, während sich eine laute, kleine Minderheit anders entscheidet. «Natürlich gibt es Communities, die lautstark gegen das Impfen sind. Daneben gibt es aber viele Eltern, die einfach verunsichert sind, sich im direkten Kontakt mit dem Kinderarzt oder der Kinderärztin aber von Fakten überzeugen lassen», sagt Niederer. Berger ist der Meinung, dass die Zahl der totalen Impfgegner während der Pandemie nicht gestiegen ist.
Menschen, welche skeptisch gegenüber Impfungen seien, sollten nicht alle in einen Topf geworfen werden, sagt Keim. Um Impfskepsis und Desinformationen wirklich langfristig anzugehen, sei es wichtig, nicht nur Symptome zu bekämpfen, das heisst die Desinformationen zu widerlegen. «Man muss den Gründen auf die Spur kommen, weswegen das Vertrauen in die Impfung und die Impfkampagne nicht mehr da ist», sagt Keim. Es müsse sichergestellt werden, dass die Bevölkerung Zugang zu lebensrettenden Gesundheitsinformationen aus vertrauenswürdigen Quellen in ihrer eigenen Gemeinschaft habe und nicht durch Fehlinformationen im Internet in die Irre geführt werde.
Unicef versorgt Betreuungspersonen und Gemeinden deshalb mit faktenbasierten Informationen über Impfstoffe. «Durch Engagement auf Gemeindeebene und den Aufbau von Partnerschaften arbeiten wir daran, Vertrauen zu schaffen. Dazu gehört auch der Aufbau von Allianzen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Glaubensgemeinschaften», sagt der Unicef-Vertreter.
Schade wenn Kinder wegen Armut oder Schwurbler Eltern nicht in den Genuss dieser Impfungen kommen.