Öfter sagen mir nun Bekannte, sie würden Tweets oder Posts oder sonstige Beiträge zum Nahost- oder Ukrainekrieg meiden. Im «Guardian» hat vor wenigen Tagen sogar der bekannte britische Journalist Simon Jenkins gestanden, er könne keine Nachrichten mehr aus Israel und Gaza anschauen, obwohl er früher in manchen Kriegsgebieten unterwegs war.
Was er und immer mehr Menschen nicht mehr aushalten, ist die schreckliche Boulevardisierung jedes Konfliktes, der in den sozialen Medien und im TV oft zum Spektakel vereinfacht wird. Es geht ihnen besser, wenn sie keine Beiträge aus den Kriegsgebieten sehen und hören, obwohl sie sich eigentlich als informierte und kritische Zeitgenossinnen und Zeitgenossen empfinden. Sie wollen sich nicht vom Leid abwenden, aber wie dieses Leid und die extreme Gewalt medial aufbereitet wird, missfällt ihnen.
Sie wünschen gesicherte, nüchterne Fakten und kompetente Expertenkommentare, doch im TV und auf Instagram, Twitter, Tiktok oder Facebook hören sie stattdessen noch den Atem der Gehetzten und Geflüchteten, die auf Schutthügeln in die TV-Kameras sprechen. In den sozialen Medien sind wir keine Sekunde sicher, ob nicht wieder jemand eine Gräuelszene mit uns teilen möchte.
Statt Informationen und sachkundiger Interpretationen bekommen wir Spekulationen und weinende Angehörige oder heruntergekühlte Armeesprecher zu sehen, lauter Menschen, die ohne jede kritische Distanz zu den Schrecknissen stehen. Die Schuldigen stehen folglich immer schnell fest, und danach bleibt, wie Simon Jenkins feststellt, höchstens ein Gefühl der Ohnmacht zurück.
Aber nicht alle können oder wollen einfach den Stecker ziehen und auf abendliches TV oder auf die sozialen Medien verzichten. Im Gegenteil, man lernt, mit dem täglichen Horror leben oder macht gar mit, bei den schnellen Schuldzuweisungen - und klingt selber so, als befinde man sich direkt inmitten von Bombenkratern.
Die 53-jährige österreichische Autorin Eva Menasse, die mit «Vienna» und «Dunkelblum» wunderbare Bestseller schrieb und auch politisch zu den profiliertesten Intellektuellen gehört, hat sich in einem umfangreichen Essay Gedanken darüber gemacht, was die digitale Dauervernetztheit mit uns macht. Wie sie unseren Umgang mit wichtigen gesellschaftlichen und politischen Themen beschleunigt und erhitzt, wie «die Wut, der Hass, die Überforderung, der Frust, der grassierende Irrationalismus, die Verschwörungserzählungen» dadurch zunehmen.
Die Digitalmoderne wirkt sich stark auf das Zwischenmenschliche aus, wie Menasse zeigt. Verändert hat sich auch die Art, wie wir Debatten führen. Das ist uns während der Coronazeit drastisch bewusst geworden. Hautnah konnten wir damals miterleben, wie vernunftbasierte Wissenschaft funktioniert. Schnell wurden sichere Impfstoffe und wirksame Verhaltensweisen gefunden.
Die besonnenen Spezialistinnen und Gesundheitspolitiker taten etwas, was völlig ungewöhnlich oder fast schon unnatürlich geworden ist in unserer digitalen Ära: Sie baten manchmal um mehr Bedenkzeit, man müsse noch gründlicher prüfen und forschen. Manchmal gestanden sie auch Fehler ein, weil vernünftiges Denken und Wissenschaft immer mit Verifizierung und Falsifizierung zu tun hat.
Doch schon bald bildete sich auch eine völlig irrationale und hochaggressive Impfgegnerschaft und wütete in den sozialen Medien, verbreitete Aberglauben und Unwahrheiten. Da wir während der Pandemie alle öfter zu Hause waren und mehr am Computer sassen, bekamen wir einen Eindruck von dem erschreckenden Potenzial zur Enthemmung, mit der wir in der Digitalmoderne leben müssen.
Dafür gibt es den Fachbegriff «online disinhibition effect». Wie Menasse schreibt, sorgt diese Enthemmung für eine «Erosion und Brutalisierung des öffentlichen Diskurses, für die weitreichende Vernichtung von Anstand, Takt und Grossmut zwischen Menschen».
In der digitalen Sphäre «dringt das Krasse, Übertriebe, das am meisten Kontroverse am stärksten durch», die Empörung sei das Gefühl, das die Menschen an ihren Geräten hält. Darum lassen sich mit Kampfbegriffen wie Cancel-Culture, Wokeness oder kulturelle Aneignung wunderbar leicht digitale Eskalationen erreichen, und die Erregungswellen schwappen auch auf die herkömmlichen Medien und gar in politische Wahlkämpfe über.
Die Frage, ob es sich um Fakten oder krud Erfundenes handelt, ist in unserer neuen Heimat «Digitalien» sekundär. Wer in den sozialen Medien nicht untergehen will, muss sich «enorm aufblasen» so Menasse, selbst auf die Gefahr hin, einen «Shitstorm» zu produzieren. «Durch die Geschwindigkeit und das massenhafte Aufheulen wird Debatten die Komplexität so jäh entzogen wie der Sauerstoff bei einem Brand», so Menasse. Der «Airbag aus Zeit» fehle, alles verläuft rasant schnell, zu vieles bleibt nur Affekt.
Eva Menasse zählt mit ihrem Jahrgang 1970 zu jener Generation, die soziale Medien schon einigermassen gut bedienen lernte, wie sie sagt, ohne eine «leichte Verachtung gegen vieles davon» unterdrücken zu können, weil sie sich immerhin noch an die vordigitale Welt erinnern kann. Sie verharrt keineswegs in kategorischem Digitalpessimismus, sondern anerkennt die positiven Wirkungen der sozialen Medien etwa bei MeToo, doch auch da habe eine digital befeuerte Pauschalskepsis dazu geführt, dass plötzlich alle Institutionen in fast allen Sparten unter Generalverdacht standen.
So wirkt das Digitale immer in die analoge Welt hinein, verändert sie, dennoch betonen Internet-Vordenker wie Jaron Lanier oder James Bridle und auch Eva Menasse, dass die eigentliche Welt analog, nicht digital sei. Die Digitalisierung forme aber den einzelnen Menschen wie die Gesellschaften immer schneller und folgenreicher um. Die Art, wie wir wahrnehmen, ist eine andere geworden.
Auch der Essay, wie ihn Menasse pflegt, ist in der Digitalmoderne eine anachronistische Form geworden: Die Essayistin tastet sich an ein Thema heran, umkreist es, gestattet sich Umwege und Rückblenden. Die Form des Essays ist nichts für Schreibende, die ihr Publikum überrumpeln wollen, nichts für Thesenreiter und notorische Besserwisser. Im Essay hört man auch Gegnern zu, versucht sie durch bessere Argumente zu überzeugen. Das heisst, der Essay setzt noch auf den langen Atem, der uns im digitalen Highspeed-Zeitalter immer mehr abhandenkommt.
Eva Menasse macht klar, dass man gerade beim omnipräsenten digitalen Debattenthema Antisemitismus nur mit Gelassenheit und Verständnis auch für Andersdenkende weiterkommt. Wer hier dauernd am Siedepunkt moralisiert und immer gleich mit «Genozid» argumentiert oder die Antisemitismus-Keule schwingt, befördert nur noch die «überhitzten moralischen Kämpfe», mit denen man die Gegnerschaft einzuschüchtern und wegzuhauen versucht. Am Schluss bleibt oft nur die «Brachialvereinfachung» übrig.
Kritiker könnten nun Eva Menasses Essay sehr leicht erledigen, indem sie sagen, das Buch sei überholt gewesen, bevor es auf den Markt kam. Wahr ist, dass ihr Essay über die hässliche Fratze unserer digitalen Debattenrealität die grausige analoge Realität vom 7. Oktober nicht mehr verarbeiten konnte, weil das Buch schon im Druck war.
Doch Eva Menasse kann überzeugend darlegen, wie die Diskussion um Israel, die Palästinenser und den Antisemitismus in allen Facetten schon vor dem Massaker der Hamas vorhanden war. Die ganze Debatte war längst am Blubbern, seit dem Terrorangriff der Hamas ist die Stimmung allerdings explosiver, und antisemitisch motivierte Straftaten häufen sich beängstigend. Eva Menasses Essay ist folglich nicht überholt. Vielmehr ist er durch den ausgebrochenen Nahostkrieg nur umso aktueller geworden.
Wir sollten uns alle mal an der Nase nehmen und mehr versuchen in Diskussionen aufeinander einzugehen, anstatt mit Totschlag-Argumenten versuchen das gegenüber mundtot zu machen!