wechselnd bewölkt-2°
DE | FR
International
Kosovo

Eskalation im Kosovo: «Eine Streitbeilegung ist eigentlich undenkbar

Experte zur Eskalation im Kosovo: «Eine Streitbeilegung ist eigentlich undenkbar»

Der tödliche Angriff auf Polizisten im mehrheitlich serbisch besiedelten Nordkosovo hat die Spannungen zwischen den beiden Ländern wieder erhöht. Balkanexperte Konrad Clewing erklärt, warum die beiden Staatsoberhäupter kaum zur Entschärfung des Konflikts beitragen und welche Rolle die Schweiz spielt.
26.09.2023, 06:0526.09.2023, 08:05
Natasha Hähni / ch media
Mehr «International»
Die serbische und die kosovarische Regierung haben sehr unterschiedliche Interpretationen des Konflikts.
Bild: Djordje Savic/EPA

Der tödliche Angriff auf Polizisten im mehrheitlich serbisch besiedelten Nordkosovo hat die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo wieder erhöht. Regierungschef Albin Kurti wirft Serbien «terroristische Attacken» vor, während der serbische Präsident Kurti die Schuld an der Situation gibt.

Die jüngsten Ereignisse gelten als schwerster Zwischenfall im angespannten Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien seit Jahren. War eine Eskalation absehbar?
KONRAD CLEWING: Im engeren Sinn absehbar ist ein solcher Vorfall nie. Aber die lokale Eskalationsgefahr im Nordkosovo war seit langem da. Die Region gilt als das von den staatlichen kosovarischen Behörden am wenigsten kontrollierte Gebiet im serbischen Siedlungsgebiet. Im Jahr 2022 sind auf Belgrader Anweisung hin, die nordkosovarischen serbischen Verwaltungs- und Polizeiangestellten aus dem kosovarischen Staatsdienst ausgetreten. Die Präsenz von vorwiegend ethnisch nicht-serbischen Polizisten war von Beginn an für die serbische Minderheitenbevölkerung des Nordens ein grosses Problem. Noch mehr aber für deren von Belgrad dirigierte nationalistische Politiker und für die an rechtsfreie Räume gewohnte lokale organisierte Kriminalität.​

Welche Rollen kommen dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic im aktuell hochkochenden Konflikt zu?
Beide tragen wenig zur Entschärfung bei. Ihnen fehlt wechselseitig jedes zwischenmenschliches Vertrauen, das für eine gute Verhandlungsführung wichtig wäre.​

Heute verfolgt Kurti eine auch gegenüber westlichen Verbündeten eigensinnigere Linie als frühere Regierungen des Kosovo. Die Konfrontation mit den serbischen Parallelstrukturen im Norden gibt ihm die Möglichkeit, von anderen erheblichen Schwächen seiner Regierung abzulenken. Aleksandar Vucic ist zwar parlamentarisch so gut wie unangefochten, durch seine halbautoritäre Herrschaft und Korruption in der Öffentlichkeit inzwischen aber umstritten. Als international eigenständiger «Hüter der Nation» gegenüber Kosovo anzutreten, ist auch für ihn eine günstige Gelegenheit.

Vucic behauptet, der Kosovo würde die Serben im Kosovo provozieren. Stimmt das?
Es ist wohl kaum ein kosovarisches Amtshandeln denkbar, das Serbien nicht als Provokation auslegen könnte. Serbien verficht den Standpunkt – und hält «seine» Minderheit in Kosovo in dem Glauben – dass Kosovo als Staat eigentlich nicht existiert. In dieser Logik galt es vergangenes Jahr schon als «Terror», dass die Regierung des Kosovo nach jahrelanger Toleranz darauf beharren wollte, dass auch im Nordkosovo die amtlichen Autokennzeichen anstelle der serbischen zur Anwendung kommen.

Wie wahrscheinlich ist nun der Abbruch der Friedensverhandlungen zwischen Kosovo und Serbien?
Der sogenannte «Dialog zwischen Belgrad und Pristina» unter Mediation durch die EU steckt seit langem in der Krise. Da es fraglich ist, ob die EU überhaupt ein geeigneter alleiniger Mediator in dieser Konfliktstellung ist, wäre es angebracht, ein Ersatzkonzept unter förmlicher Hinzuziehung der Nato, beziehungsweise der USA, anzudenken.​

Wie geht es nun weiter?
Eine tatsächliche, bilaterale Streitbeilegung zwischen Serbien und Kosovo ist angesichts der unvereinbaren Grundannahmen eigentlich undenkbar.​

Balkan-Experte Konrad Clewing arbeitet am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.
Balkan-Experte Konrad Clewing arbeitet am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg.Bild: Anna Perezolova/zvg

Wie sieht das Worst-Case-Szenario aus?
Das Worst-Case-Szenario kann dann eintreten, wenn die Nato und die EU ihre Präsenz in Nordkosovo nicht endlich grundlegend ausbauen. Dann ist damit zu rechnen, dass die Strukturen der nordkosovarischen Serben – mit mehr oder weniger direkter Unterstützung Serbiens – und die kosovarische Polizei immer wieder aufs Neue in lokale Konflikte geraten.​

Was müsste passieren, um die Situation zu deeskalieren? Welche Rolle spielt das Swisscoy (Engagement der Schweizer Armee im Rahmen der Friedensförderung im Kosovo) dabei?
Die beste – aber leider nicht sehr wahrscheinliche – Lösung wäre eine zeitweilige weitgehende Übernahme von öffentlicher Sicherheit und Verwaltung im Nordkosovo durch die Nato und eine internationale Verwaltungsstruktur. Das zuvor serbisch beherrschte kroatische Ostslawonien in den Jahren nach 1995 könnte eine Blaupause sein. Dazu braucht es eine dezidierte Sicherheitserklärung für Kosovos Grenzen und Souveränität durch die Nato.​

Wahrscheinlicher ist eine schlichtere Verstärkung der Kosovo-Truppe der Nato als solche. Und da spielt die Schweiz schon seit langem eine verdienstvolle Rolle, mit einem derzeit dreimal so grossen Truppenkontingent wie Deutschland. Allerdings: Vor Ort in Nordkosovo kommt es auf robustes militärisches Auftreten an, zu der Swisscoy wohl nicht befugt oder imstande ist. (aargauerzeitung.ch)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet um die Zahlung abzuschliessen)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
7 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
7
War's das für Bibi Netanjahu?
Neue Enthüllungen der «New York Times» zeigen auf, wie katastrophal die israelische Regierung und das Militär versagt haben.

«Es mag sein, dass ihr mich nicht mögt, aber ich garantiere für die Sicherheit von Israel.» Mit diesem Versprechen kann sich Benjamin «Bibi» Netanjahu seit rund 14 Jahren an der Macht halten. Der 7. Oktober hat jedoch gezeigt, dass dies ein hohles Versprechen ist. Die Regierung, das Militär und die Geheimdienste haben die tödliche Gefahr eines Hamas-Angriffes sträflich unterschätzt und den schlimmsten Mord an Juden seit dem Holocaust ermöglicht.

Zur Story