Der tödliche Angriff auf Polizisten im mehrheitlich serbisch besiedelten Nordkosovo hat die Spannungen zwischen Serbien und Kosovo wieder erhöht. Regierungschef Albin Kurti wirft Serbien «terroristische Attacken» vor, während der serbische Präsident Kurti die Schuld an der Situation gibt.
Die jüngsten Ereignisse gelten als schwerster Zwischenfall im angespannten Verhältnis zwischen dem Kosovo und Serbien seit Jahren. War eine Eskalation absehbar?
KONRAD CLEWING: Im engeren Sinn absehbar ist ein solcher Vorfall nie. Aber die lokale Eskalationsgefahr im Nordkosovo war seit langem da. Die Region gilt als das von den staatlichen kosovarischen Behörden am wenigsten kontrollierte Gebiet im serbischen Siedlungsgebiet. Im Jahr 2022 sind auf Belgrader Anweisung hin, die nordkosovarischen serbischen Verwaltungs- und Polizeiangestellten aus dem kosovarischen Staatsdienst ausgetreten. Die Präsenz von vorwiegend ethnisch nicht-serbischen Polizisten war von Beginn an für die serbische Minderheitenbevölkerung des Nordens ein grosses Problem. Noch mehr aber für deren von Belgrad dirigierte nationalistische Politiker und für die an rechtsfreie Räume gewohnte lokale organisierte Kriminalität.
Welche Rollen kommen dem kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti und dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vucic im aktuell hochkochenden Konflikt zu?
Beide tragen wenig zur Entschärfung bei. Ihnen fehlt wechselseitig jedes zwischenmenschliches Vertrauen, das für eine gute Verhandlungsführung wichtig wäre.
Heute verfolgt Kurti eine auch gegenüber westlichen Verbündeten eigensinnigere Linie als frühere Regierungen des Kosovo. Die Konfrontation mit den serbischen Parallelstrukturen im Norden gibt ihm die Möglichkeit, von anderen erheblichen Schwächen seiner Regierung abzulenken. Aleksandar Vucic ist zwar parlamentarisch so gut wie unangefochten, durch seine halbautoritäre Herrschaft und Korruption in der Öffentlichkeit inzwischen aber umstritten. Als international eigenständiger «Hüter der Nation» gegenüber Kosovo anzutreten, ist auch für ihn eine günstige Gelegenheit.
Vucic behauptet, der Kosovo würde die Serben im Kosovo provozieren. Stimmt das?
Es ist wohl kaum ein kosovarisches Amtshandeln denkbar, das Serbien nicht als Provokation auslegen könnte. Serbien verficht den Standpunkt – und hält «seine» Minderheit in Kosovo in dem Glauben – dass Kosovo als Staat eigentlich nicht existiert. In dieser Logik galt es vergangenes Jahr schon als «Terror», dass die Regierung des Kosovo nach jahrelanger Toleranz darauf beharren wollte, dass auch im Nordkosovo die amtlichen Autokennzeichen anstelle der serbischen zur Anwendung kommen.
Wie wahrscheinlich ist nun der Abbruch der Friedensverhandlungen zwischen Kosovo und Serbien?
Der sogenannte «Dialog zwischen Belgrad und Pristina» unter Mediation durch die EU steckt seit langem in der Krise. Da es fraglich ist, ob die EU überhaupt ein geeigneter alleiniger Mediator in dieser Konfliktstellung ist, wäre es angebracht, ein Ersatzkonzept unter förmlicher Hinzuziehung der Nato, beziehungsweise der USA, anzudenken.
Wie geht es nun weiter?
Eine tatsächliche, bilaterale Streitbeilegung zwischen Serbien und Kosovo ist angesichts der unvereinbaren Grundannahmen eigentlich undenkbar.
Wie sieht das Worst-Case-Szenario aus?
Das Worst-Case-Szenario kann dann eintreten, wenn die Nato und die EU ihre Präsenz in Nordkosovo nicht endlich grundlegend ausbauen. Dann ist damit zu rechnen, dass die Strukturen der nordkosovarischen Serben – mit mehr oder weniger direkter Unterstützung Serbiens – und die kosovarische Polizei immer wieder aufs Neue in lokale Konflikte geraten.
Was müsste passieren, um die Situation zu deeskalieren? Welche Rolle spielt das Swisscoy (Engagement der Schweizer Armee im Rahmen der Friedensförderung im Kosovo) dabei?
Die beste – aber leider nicht sehr wahrscheinliche – Lösung wäre eine zeitweilige weitgehende Übernahme von öffentlicher Sicherheit und Verwaltung im Nordkosovo durch die Nato und eine internationale Verwaltungsstruktur. Das zuvor serbisch beherrschte kroatische Ostslawonien in den Jahren nach 1995 könnte eine Blaupause sein. Dazu braucht es eine dezidierte Sicherheitserklärung für Kosovos Grenzen und Souveränität durch die Nato.
Wahrscheinlicher ist eine schlichtere Verstärkung der Kosovo-Truppe der Nato als solche. Und da spielt die Schweiz schon seit langem eine verdienstvolle Rolle, mit einem derzeit dreimal so grossen Truppenkontingent wie Deutschland. Allerdings: Vor Ort in Nordkosovo kommt es auf robustes militärisches Auftreten an, zu der Swisscoy wohl nicht befugt oder imstande ist. (aargauerzeitung.ch)