In der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince sind fast permanent Schüsse zu hören. Diejenigen, die ihnen zum Opfer fallen – teils Zivilistinnen und Zivilisten, teils Gangmitglieder –, bleiben genau dort liegen, wo sie zu Boden gehen. Mit Tüchern bedeckt oder nach dem Anzünden halb zu Asche verfallen, bleiben sie tagelang in der gleissenden Sonne liegen. Den Tod in Haiti kann man riechen. Und das schon seit Langem.
Fast genau ein Jahr ist es her, seit watson mit Esther Belliger, Helvetas-Koordinatorin für Lateinamerika und die Karibik, gesprochen hat. Schon damals schilderte sie die horrenden Zustände in der Hauptstadt des Karibikstaats. Verbessert hat sich für die Bevölkerung in Port-au-Prince seither nichts. Im Gegenteil, wie Belliger sagt. Die dortige Gewalt hat in den vergangenen Wochen ein neues Ausmass erreicht, was den Interims-Premierminister Ariel Henry zum längst überfälligen Rücktritt bewogen hat. Ein Überblick zur aktuellen Lage.
«In der Hauptstadt herrscht Anarchie», sagt Helvetas-Koordinatorin Esther Belliger. Schon seit über einem Jahr werden gemäss Schätzungen der UN fast 80 Prozent der Hauptstadt Port-au-Prince von Gangs kontrolliert.
Mit den Gangs regiert die Angst vor Übergriffen, Entführungen, Folter und Vergewaltigung. Marie Pierre, eine Anwohnerin aus Port-au-Prince, erzählt:
Auch der Leiter einer Leichenhalle kennt diese Angst, wie er gegenüber der Washington Post erzählt. Er habe vergangene Woche über 20 Anrufe erhalten und sei gebeten worden, Leichen aufzusammeln. Er habe alle Aufträge ablehnen müssen. Zu gross sei das Risiko, sich auf die von Gangs blockierten Strassen zu begeben.
Mit Folgen, wie auch CNN-Fotograf Giles Clarke merken musste:
«Die Logistik sowohl in der Hauptstadt als auch in anderen Landesteilen ist unterbrochen», erzählt die Expertin von Helvetas. Die Strassen und der Hafen sind blockiert, der Flughafen seit über einer Woche geschlossen – Interims-Premierminister Ariel Henry steckt seit vergangener Woche in Puerto Rico fest. Von dort aus kündigte er am Montagabend (Ortszeit) in einer Videoansprache seinen Rücktritt an.
Den Entscheid traf Henry, nachdem Staats- und Regierungschefs der Region am Montag in Jamaika eine Dringlichkeitssitzung einberufen hatten, um über einen politischen Übergang in Haiti zu beraten. In der Ansprache zu seinem Rücktritt betonte Henry das Offensichtliche:
Bereits seit Januar 2023 hat das Land keinen einzigen gewählten Amtsträger oder Amtsträgerin mehr: Es gibt kein Parlament, keine Justiz. Seit dem Mord an Präsident Jovenel Moïse 2021 verschob Henry angekündigte Wahlen mehrmals mit Verweis auf die instabile Sicherheitslage.
Zuletzt Ende Februar: Statt zurückzutreten und Wahlen einzuleiten, kündigte er an, diese auf August 2025 verschieben zu wollen. Daraufhin reiste er nach Kenia, um dort einen Vertrag zu unterzeichnen, der die Entsendung von 1000 kenianischen Polizisten nach Haiti vorsah. Der UN-Sicherheitsrat hatte die Mission zur Unterstützung der haitianischen Polizei bereits im Oktober genehmigt. Ziel: Die Lage in der Hauptstadt unter Kontrolle zu bringen. Ein Unterfangen, das mit der Ankündigung der verschobenen Wahlen noch nötiger wurde als je zuvor, denn mit ihr eskalierte die Lage in der Hauptstadt komplett.
Wenige Tage nach der Ankündigung schlossen sich rivalisierende Gangs unter dem Namen «Vivre Ensemble» («Zusammen Leben») kurzzeitig zusammen, um vereint den Rücktritt Henrys zu fordern. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, stürmten sie Anfang März in einer koordinierten Aktion zwei Nationalgefängnisse und befreiten 4500 Häftlinge. Den daraufhin ausgerufenen Notstand hat die Regierung aufgrund weiterer Attacken mehrmals verlängert.
Die Polizei sei, sowohl was Ausrüstung als auch die Anzahl betrifft, völlig überfordert und zeige kaum mehr Präsenz, sagt Helvetas-Mitarbeiterin Belliger. Sie könne den Gangs kein Paroli bieten. Das weiss auch die Regierung. Jean Junior Joseph, der Berater des Premierministers Ariel Henry, räumte gegenüber CNN ein:
Die Bevölkerung in der Hauptstadt hat deswegen zu eigenen Massnahmen gegriffen. Ab Mai vergangenen Jahres bildete sie eine Bürgerbewegung unter dem Namen «Bwa Kale» – haiti-kreolisch für «geschälte Baumrinde». Ihr Fokus liegt nicht bloss auf der Verteidigung, sondern auf dem aktiven Verfolgen und teils brutalen Lynchen von Gangmitgliedern. Diese Entwicklung zeige, dass es kein funktionierendes System und keine Justiz gebe, sagt Esther Belliger, die jede Form von Gewalt verurteilt.
Sowohl das konkrete Ausmass der Gewalt als auch die Anzahl der Todesopfer ist bisher nur schwer zu beziffern. Informationen und Bildmaterial aus erster Hand gelangen nur spärlich an die breite Öffentlichkeit – eine Einladung für unverifizierte Spekulationen. Seit einigen Tagen zirkuliert ein Video auf X, welches zwei aufgespiesste Menschen zeigt, die wie Spanferkel über einem Feuer hängen. In Haiti werde wieder Kannibalismus praktiziert, heisst es dazu. Erst wer etwas länger recherchiert, findet heraus, dass das Video von einer Halloweenparty in einem chinesischen Unterhaltungspark stammt. Seit 2018 wird es immer wieder gebraucht, um verschiedene Länder des Kannibalismus zu beschuldigen.
Angeheizt wird die Diskussion noch zusätzlich durch die Präsenz des mächtigen Anführers Jimmy Chérizier mit Übernamen «Barbecue». Gemäss Medienberichten werde er so genannt, weil er das Fleisch seiner getöteten Feinde grilliere und konsumiere. Barbecues eigene Version ist harmloser: Er habe als Kind am Stand seiner Mutter Würstchen verkauft.
Der ehemalige Polizeioffizier führt mit G9 eine der grössten bewaffneten Gruppen in der Hauptstadt an. Gegenüber Medien sagte er am Montag:
Chérizier spricht sich gegen eine Intervention der internationalen Gemeinschaft aus: Wenn diese ihren eingeschlagenen Weg fortsetze, werde sie Haiti in noch grösseres Chaos stürzen.
Gemäss Reuters soll ein siebenköpfiger Präsidialrat gegründet werden, der sich aus Vertreterinnen und Vertreter politischer Koalitionen, der Wirtschaft, der Zivilgesellschaft sowie einem religiösen Führer zusammensetzen soll. Unter der Beobachtung zweier dafür eingesetzten Personen soll dieser Rat einen Interims-Premierminister bestimmen. Sobald das geschehen sei, lege er das Amt nieder, versprach Henry.
Doch weder für die Schaffung dieses Präsidialrats noch für die von Kenia geleitete Sicherheitsmission sei ein Zeitplan genannt worden, betont Esther Belliger.
Dass sich die Entsendung der kenianischen Polizisten mit Unterstützung von Benin, den Bahamas, Bangladesch, Barbados und Tschad noch weiter verzögern wird, steht bereits fest. Die Sicherheitsmission werde erst möglich sein, wenn Haiti wieder eine Regierung habe, liess das Aussenministerium in Nairobi am Dienstagabend (Ortszeit) verlauten.
Zwar sei die Lage in der Hauptstadt nicht weiter eskaliert, sagt Helvetas-Mitarbeiterin Belliger, die Gewalt halte sich aber nach wie vor auf einem sehr hohen Niveau. Die Mehrheit der Bevölkerung sei mittlerweile der Meinung, dass es eine UNO-Intervention brauche. Aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit sei die Skepsis aber gross.
Dennoch glaubt auch sie, dass eine Sicherheitsmission den einzigen Weg darstellt, die Gewalt unter Kontrolle zu bringen und damit die Voraussetzung für freie, sichere Wahlen zu schaffen:
Was das Land jetzt wirklich brauche, sei die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft.
Schon im vergangenen Jahr sei der Bedarf an Hilfe extrem gross gewesen. Die internationale Gemeinschaft habe davon lediglich ein Drittel gedeckt. «Auch infolge neuer Krisen fehlen die Mittel vielerorts», schlussfolgert Belliger. Es sei schmerzhaft, zu sehen, dass gewisse Krisen vergessen worden seien. Unter anderem Haiti.
Auch in diesem Jahr fehlt es wieder an der nötigen Unterstützung. Gemäss einem UNO-Sprecher würden für die Deckung des humanitären Bedarfs in Haiti 674 Millionen US-Dollar benötigt. Finanziert seien bisher 2,6 Prozent. Die Zeit drängt: Fast die Hälfte der rund elf Millionen Einwohner des Landes leidet nach Schätzung der Vereinten Nationen unter akutem Hunger. In Haiti herrsche eine der schwersten Lebensmittelkrisen der Welt, sagte der WFP-Landesdirektor in Haiti, Jean-Martin Bauer.
Haiti brauche Präsenz, betont Esther Belliger. Auch aus diesem Grund sei Helvetas noch immer vor Ort. Die Hilfe – zum Beispiel im Bereich Wasserversorgung – sei auch jetzt möglich. Die Präsenz zeige zudem, dass man dem Land den Rücken stärken wolle und Perspektiven sehe:
Ich habe keine Hoffnung, dass sich in diesem Land in den nächsten 10-20 Jahren viel zum positiven entwickelt.