Dass in der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince Schüsse ertönen, Strassenblockaden brennen und Leichen am Strassenrand liegen, ist schon beinahe Alltag. Seit Monaten bekämpfen sich rivalisierende Gangs im karibischen Land auf offener Strasse, wobei auch immer wieder Zivilistinnen und Zivilisten Opfer von Überfällen, Vergewaltigungen und Morden werden. Angesichts der fehlenden Regierung, der schwachen Polizei und der steigenden Armut sehen viele von ihnen nur noch eine Option: selbst zur Waffe greifen.
Was zunächst als vereinzelte Lynch-Morde an mutmasslichen Gangmitgliedern begann, hat sich ab Mai in eine organisierte Bürgerwehr entwickelt. Sie nennt sich «Bwa Kale», was auf haiti-kreolisch so viel bedeutet wie «geschälte Baumrinde». Es sei ein Aufruf an die Einheimischen, sich mit angespitzten Holzstöcken, Steinen, Macheten und anderen Werkzeugen auszurüsten, um die Gangmitglieder zur Strecke zu bringen, schreibt die Haitian Times im Mai.
Ihren Ursprung findet sie wohl in einem Vorfall vom 24. April, als ein wütender Mob das Gesetz auf brutale Weise selbst in die Hand nahm. Nachdem die Polizei bei einer Verkehrskontrolle 13 mutmassliche Gangmitglieder gestoppt hatte, griff eine wütende Menschenmenge ein und entriss die Männer dem Polizeigewahrsam. Daraufhin trieb sie diese auf der Strasse zusammen, schlug und steinigte sie. Im Netz zirkulierende Videos zeigen die 13 Verdächtigen, wie sie auf dem Boden liegen, während die Polizei daneben steht, ohne einzugreifen. Einige der mutmasslichen Gangmitglieder betteln noch um Gnade – vergebens. Wenig später aufgenommene Videos zeigen die Männer, wie sie unter mit Petroleum begossenen Pneus bei lebendigem Leibe lichterloh in Flammen stehen.
Gemäss Zeugen sollten die Männer der Gang Kraze Barye angehört haben. Diese seien an diesem Tag bereits mitten in der Nacht in die Häuser diverser Nachbarschaften eingebrochen, wo sie die Bewohnerinnen und Bewohner ausgeraubt und attackiert hätten.
Der Gangterror zieht sich schon seit Monaten hin und hinterlässt eine Spur der Vernichtung. Zehntausende Menschen mussten aufgrund solcher Angriffe bereits aus ihren Vierteln flüchten. Wegen von Gangs errichteten Strassenblockaden, der Angst vor Kidnappings oder schlicht fehlender finanzieller Mittel gelingt die Flucht nicht allen. Die zurückgebliebenen Menschen sind der Gewalt der Gangs gnadenlos ausgeliefert. AP News hat einige von ihnen im Armenviertel Cité Soleil porträtiert.
So etwa Dieu Frisdeline, die von einer Gruppe von Gangmitgliedern vergewaltigt worden ist, wie sie unter Tränen erzählt.
Lovely Benjamin zeigt den Kopf ihres vierjährigen Kindes, der die Narbe einer Machete trägt. Auch ihre Familie ist von einer Gang angegriffen worden. Während sie und ihr Sohn überlebten, sei ihr Partner getötet und angezündet worden.
Rose Dufon trägt eine Narbe an der Schulter. Sie war im neunten Monat schwanger, als sie von Gangmitgliedern angeschossen, geschlagen und vergewaltigt wurde. Ihr ungeborenes Kind überlebte den Überfall nicht.
Januelle Datka und ihre 15-jährige Tochter wurden nach einer Vergewaltigung von Gangmitgliedern beide schwanger.
Lenlen Desir Fondala geriet zufällig ins Kreuzfeuer und verlor durch eine verirrte Kugel ihren Zeigefinger.
Von alldem haben die Einheimischen genug, weshalb seit dem 24. April immer mehr Zivilistinnen und Zivilisten selbst zu den Waffen greifen. An diese kommen sie problemlos: Wie eine Reportage vom australischen Sender ABC News zeigt, laufen Anführer von Kwa Bale am hellichten Tag durch die Strassen und verteilen Macheten.
Die Waffen benutzen sie aber nicht bloss zur Verteidigung: Nach Angaben der haitianischen Organisation CARDH seien zwischen dem 24. April und dem 24. Mai mindestens 160 mutmassliche Bandenmitglieder verfolgt, gelyncht und bei lebendigem Leib verbrannt worden. Aber bereits vor der Entstehung von Kwa Bale seien mindestens 78 Menschen exekutiert worden.
Die Gangmitglieder schienen vom Widerstand der Bevölkerung Notiz genommen zu haben: Zwischen April und Mai seien fast keine Entführungen mehr gemeldet worden, schreibt das CARDH in seinem Bericht. Zwischen Januar und März registrierte es noch 389 Entführungen.
Das ist allerdings noch kein Grund zur Freude. Die Organisation warnt vor möglichen Vergeltungsschlägen der Gangs, so wie dies etwa am 19. April geschehen war. An diesem Tag seien in der Ortschaft Source-Matelas 40 Menschen von der Bande 5 Segond ermordet oder entführt und Dutzende Häuser niedergebrannt worden. Der Angriff galt wohl als Racheakt für die Bürgerbrigade, die im vergangenen November eingesetzt worden war, nachdem 12 Dorfbewohner von der Gang massakriert worden waren.
Und auch wenn die Entführungsrate gesunken ist: Sicherheit bringt Kwa Bale nicht. Unschuldige werden weiterhin getötet – und das sogar von der Bürgerbewegung selbst. Wie Rosy Auguste Ducena vom National Human Rights Defence Network (RNDDH) gegenüber France24 erklärt, fallen den Lynchmorden immer wieder unschuldige Menschen zum Opfer.
Sie habe von Fällen gehört, bei denen Frauen exekutiert worden seien, weil sie mutmasslich romantische Beziehungen zu Gangmitgliedern gehabt hätten. Tatsächlich wird in den sozialen Medien sogar mit Fotos zur Jagd auf die Frauen der Gangmitglieder aufgerufen. Wie Ducena kritisiert, würden die Verdächtigen jeweils nur einer sehr oberflächlichen Befragung unterzogen, bevor sie schliesslich einfach ermordet werden.
Die 23-jährige Joaniska berichtet gegenüber ABC News, dass ihr Mann bloss ohne Identifikation auf dem Nachhauseweg gewesen sei. Das alleine reichte schon aus, um ihn als Gangmitglied zu verdächtigen, wie Joaniska sagt:
Vor weniger als zwei Wochen brachte Joaniska ihren gemeinsamen Sohn auf die Welt. Ihn muss sie nun alleine aufziehen. Und dies in einer Zeit, in der laut UN fast die Hälfte der elf Millionen Haitianer und Haitianerinnen unter akutem Hunger leiden.
Die internationale Gemeinschaft muss nach Ansicht von UNICEF-Exekutivdirektorin Catherine Russell viel mehr tun, um Haiti zu helfen. «Die Welt lässt die Haitianer im Stich», sagte sie laut einer Mitteilung am Donnerstag in New York nach einem Besuch in dem Karibikstaat. Die internationale Solidarität mit Haiti sei seit der Zeit nach dem verheerenden Erdbeben von 2010 grösstenteils verpufft; dabei sei die Situation schlimmer denn je, sagte die Chefin des Kinderhilfswerks. Von 720 Millionen US-Dollar (650 Mio. Schweizer Franken), um die die UN in diesem Jahr für humanitäre Hilfe in Haiti baten, sei bisher weniger als ein Viertel eingegangen.
«Die aktuelle Sicherheitslage ist inakzeptabel», sagte Russell. Sie berichtete von brutaler Bandengewalt, darunter systematische Vergewaltigungen. Hinzu kämen Hunger, Armut, Cholera und Klimafolgen.
Seit der ungeklärten Ermordung des haitischen Präsidenten Jovenel Moïse im Sommer 2021 gibt es eine Interimsregierung. Das Machtvakuum vertieft sich durch die zerfallende Regierung unter Interimspremierminister Ariel Henry aber immer weiter. Seit 2019 haben keinerlei Wahlen mehr stattgefunden, weshalb es keinen einzigen gewählten Beamten auf irgendeiner Ebene der Regierung gibt.
Diesen nicht funktionierenden Staatsapparat nutzen die Gangs nun aus. Bereits im Oktober bat deswegen Henry um Hilfe durch eine internationale Truppe – die kam bislang nicht zustande.
In Port-au-Prince nannte der UN-Menschenrechtsexperte William O'Neill den Einsatz einer internationalen Truppe «unerlässlich» und rief dazu auf, ein vom Sicherheitsrat beschlossenes Waffenembargo gegen Haiti umzusetzen. «Die Menschenrechtslage ist dramatisch, alle Rechte werden verletzt», sagte er zum Abschluss eines zehntägigen Besuchs am Mittwoch. Seine Worte sind warnend:
(Mit Material der Nachrichtenagenturen sda und dpa)
Macht der Westen nichts, ist der Westen auch böse.
Ich zitiere jetzt nicht Trump, aber wenn die Locals in der dom. Republik sogar einen davor warnen, je einen Fuss auf die andere Inselhälfte zu setzten, muss dies die Hölle auf Erden sein. Der Artikel bestätigt es.