In Südamerika droht der erste Krieg zwischen zwei Staaten des Kontinents seit knapp 100 Jahren. Mittels eines umstrittenen Referendums beschloss Venezuela am Sonntag die Annexion der Region Essequibo im Nachbarland Guyana. Die Regierung von Nicolás Maduro erhebt damit Anspruch auf mehr als zwei Drittel des Territoriums von Guyana. Dort wurden erst vor wenigen Jahren grosse Ölvorkommen entdeckt.
Venezuela versucht nun offenbar, schnell Nägel mit Köpfen zu machen: Maduro will auf dem Gebiet die venezolanische Provinz Guyana Esequiba gründen und wies den staatlichen Ölkonzern PVDSA an, «sofort» Lizenzen zur Förderung von Erdöl und Gas sowie für den Bergbau zu vergeben. Guyanas Präsident Irfaan Ali sprach von einer «direkten Bedrohung» für sein Land. Sollte Venezuela in Guyana einmarschieren, könnte es zum ersten grösseren Krieg zwischen zwei südamerikanischen Staaten seit dem Chaco-Krieg von 1931/1932 zwischen Paraguay und Bolivien.
Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Venezuelas Vorgehen erinnert an die völkerrechtswidrige Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim durch Wladimir Putins Russland im Jahr 2014.
10.4 Millionen Venezolaner sollen am Sonntag abgestimmt haben. Die venezolanische Wahlbehörde präsentierte danach ein überwältigendes Ergebnis: 95 Prozent der Wähler sollen sich für die Annexion von Essequibo ausgesprochen haben. Zahlreiche Beobachter zweifelten die Zahlen allerdings an.
Der Streit um die Region Guyanas schwelt schon seit mehr als einem Jahrhundert. Guyana stand im Laufe des 18., 19. und 20. Jahrhunderts unter der Kontrolle mehrerer Kolonialmächte: Sowohl die Niederlande als auch Frankreich und schliesslich Grossbritannien waren in den betreffenden Gebieten an der Macht. Erst die Briten bauten dabei die Kontrolle über Essequibo aus. Venezuela hatte damals ebenfalls Anspruch auf die Region erhoben, ein Schiedsgericht gab aber Grossbritannien recht. Guyana erlangte schliesslich 1966 die Unabhängigkeit. Venezuela rückte von seinen Ansprüchen auf Essequibo jedoch nie ab.
Essequibo ist reich an Bodenschätzen.
Die Begehrlichkeiten nahmen noch einmal deutlich zu, nachdem der US-amerikanische Ölkonzern ExxonMobil 2015 in dem Gebiet ein Ölvorkommen entdeckt hatte. Guyana hat die Lizenzen zur Förderung an den Konzern vergeben. Im Oktober dieses Jahres wurde in der Region ein weiterer bedeutender Ölfund gemacht, der die Reserven Guyanas auf mindestens zehn Milliarden Barrel – und damit auf mehr als die des ölreichen Kuwait oder der Vereinigten Arabischen Emirate – vergrössert. Maduro behauptet, das Öl gehöre Venezuela und die USA würden es seinem Land stehlen.
Neben den Ölvorkommen gibt es weitere mögliche Gründe für eine Invasion. Zunächst einmal sollen im kommenden Jahr Präsidentschaftswahlen in Venezuela stattfinden. Staatschef Maduro steht unter Druck: Die Oppositionspolitikerin Maria Corina Machado führt die Umfragen an und könnte die Herrschaft der Sozialisten nach mehr als 25 Jahren beenden – sofern sie zur Wahl zugelassen wird. Ein Krieg könnte für Maduro ein willkommener Grund sein, die Wahlen zu verschieben.
Zudem ist Venezuelas Wirtschaft, obwohl das Land die grössten Ölreserven der Welt besitzt, in starker Schieflage. Essequibo ist besonders reich an Bodenschätzen: Neben den Öl- und Gasvorkommen befinden sich in den Regenwäldern der Region Guyanas Gold, Diamanten und nicht zuletzt Holz.
Doch könnte sich Venezuela eine militärische Auseinandersetzung überhaupt leisten? Obwohl das Land seine Einnahmen aus dem Erdölgeschäft zu grossen Teilen in sein Militär gesteckt hat, ist der wirtschaftliche Abschwung auch an den Streitkräften nicht vorübergegangen. Lateinamerikaexperte Jochen Kleinschmidt meint: «Das Militär von Venezuela ist nur noch ein Schatten seiner selbst», konstatiert er auf der Plattform X. Wäre eine Invasion dennoch möglich? «Natürlich sind in unserer Zeit schon verrücktere Dinge passiert.»
Freilich, trotz aller Widrigkeiten für das venezolanische Militär können sich die Streitkräfte Guyanas nicht im Ansatz damit messen. Laut Berichten zählt die Armee des Landes lediglich 3'400 freiwillige Soldaten. Venezuela verfügt über ein stehendes Heer von rund 120'000 Mann, dazu gepanzerte Fahrzeuge und eine – wenn auch marode – Luftwaffe.
Der US-amerikanische Lateinamerikaforscher R. Evan Ellis schreibt dazu:
Essequibo ist etwa halb so gross wie Polen. Das gelte insbesondere, wenn Guyana Unterstützung der USA erhalte, so Ellis. Und Maduro ginge ein Risiko ein: Eine fehlgeschlagene Kampagne könnte das Militär letztlich gegen Maduro aufbringen.
Schaut man auf die internationale Bühne, so könnte der Konflikt einem weiteren Akteur nutzen: Kremlchef Wladimir Putin. Russland ist neben China der wichtigste Partner Venezuelas und unterstützt das Land, insbesondere mit Militärgütern. Es gibt Berichte, denen zufolge Maduro noch in diesem Jahr Russland besuchen wolle. China ist Venezuelas wichtigster Gläubiger und lässt sich die Schulden mittlerweile sogar mit Erdöl zurückzahlen.
Putin und Xi führen nach Ansicht von Experten aktuell einen Feldzug gegen den Westen. Von Putin ausgelöste oder unterstützte Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten binden bereits jetzt grosse Kapazitäten der westlichen Staaten, angeführt von den USA.
Bricht in Lateinamerika ein weiterer Krieg vom Zaun, könnte Washington sich abermals gezwungen sehen, Unterstützung zu leisten – zumal es um wichtige Ölvorkommen geht. Putin würde das nutzen, denn Washington müsste damit auf dem dritten Kontinent eingreifen. Die Ukraine würde damit weiter aus dem Blick der internationalen Gemeinschaft rücken.
Die USA wiederum verstricken sich aktuell in innenpolitische Streitigkeiten, im kommenden Jahr stehen Präsidentschaftswahlen an. Der Wahlkampf läuft inoffiziell bereits auf Hochtouren. Unter anderem die Ukraine bekommt das zu spüren: Der US-Kongress hat bisher über dieses Jahr hinaus keine weiteren Hilfen bewilligt. Insbesondere die Republikaner blockieren dies. Mehr dazu lesen Sie hier.
US-Präsident Joe Biden musste sich angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Suche nach neuen Quellen für Erdöl begeben. Der Demokrat wurde daraufhin ausgerechnet bei Venezuelas Präsident Maduro vorstellig. Sein Vorgänger Donald Trump hatte Venezuela noch mit scharfen Sanktionen überzogen, vor allem im Energiesektor. Das alles sollte nun passé sein: Das Weisse Haus stellte Maduro in Aussicht, die Sanktionen zu lockern. Doch Venezuelas Referendum über Essequibo stellt diesen Fortschritt infrage.
China indes rief Venezuela und Guyana auf, den Streit beizulegen. «China hat immer die Souveränität und territoriale Integrität aller Länder respektiert», sagte Aussenamtssprecher Wang Wenbin am Mittwoch in Peking. China habe Venezuela und Guyana «bei der ordnungsgemässen Lösung von Grenzfragen stets unterstützt». Dies sei auch wichtig für die Stabilität in der Region.
Der Konflikt ruft nun auch Brasilien auf den Plan, das mit Abstand grösste und mächtigste Land Lateinamerikas. Brasilien grenzt im Norden sowohl an Venezuela als auch an Guyana. Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hat die Entsendung gepanzerter Fahrzeuge sowie Truppen an die nördliche Grenze angeordnet. Mindestens 600 Soldaten sollen nun gewährleisten, dass der Konflikt nicht auf brasilianisches Territorium überschwappt. Brasilien ist zudem neben den USA, Grossbritannien und Frankreich ein wichtiger Unterstützer Guyanas. Zudem hatten sich die brasilianisch-venezolanischen Beziehungen zuletzt unter Ex-Präsident Jair Bolsonaro stark abgekühlt.
Nun ist mit Lula jedoch ein linker Präsident in Brasilien an der Macht, der den USA durchaus misstrauisch gegenübersteht und Russlands Krieg in der Ukraine kaum verurteilen möchte. Maduro könnte sich diesen Umstand zunutze machen und «aus einer rechtlichen Frage eine ideologische machen», meint R. Evan Ellis. Maduro könnte versuchen, eine «antiimperialistische» und USA-kritische Koalition aus geneigten Staaten wie Kolumbien unter dem linken Präsidenten Gustavo Petro, Brasilien mit Lula und weiteren linksgerichteten Ländern wie Nicaragua, Kuba, Honduras und möglicherweise Mexiko zu schaffen.
Verwendete Quellen: