Die Geschichte der Familie Dia ist zunächst ein andauernder Aufstieg. Sandas Vater Ousmane, ein Mauretanier, reist im Jahr 1994 auf der Suche nach Asyl von Senegal nach Belgien. Er lässt sich in Antwerpen nieder, wo er auch einen Job findet. Zunächst arbeitet Ousmane Dia am Hafen, dann in einer Lastwagen-Fabrik.
In Antwerpen gründen Ousmane Dia und seine Frau dann eine Familie. 1998 kommt Sanda zur Welt, ein Kind mit grossen Ambitionen. Er sei ein hervorragender Schüler gewesen, so sein Vater gegenüber der «New York Times». So schafft er es 2016 an die Katholieke Universiteit Leuven, eine Uni im flämischen Löwen, welche zu den renommiertesten der Welt zählt. «Ein Traum», erinnert sich Ousmane Dia zurück. Sanda Dia will Ingenieur werden. In Löwen hat er nicht nur die Möglichkeit, eine gute Ausbildung zu erhalten, sondern auch Kontakte zu einflussreichen Familien zu knüpfen.
In seinem dritten Jahr an der Universität, im Dezember 2018, entscheidet sich Sanda Dia, der Studentenverbindung Reuzegom beizutreten. «Es hat Vorteile, Teil davon zu sein», soll Sanda Dia nach Angaben seines Bruders dazu gesagt haben. Reuzegom gilt als Verbindung der Nachkommen der flämischen Elite. «Wenn du die kennst, ist das gut für dein Netzwerk», so Dia deshalb. «Wenn man dann die Uni verlässt, werden sie einem weiterhin vertrauen.»
Er komt geen bijzonder onderzoek in zaak-Sanda Dia door Hoge Raad voor Justitie https://t.co/XMU5tpfQxa pic.twitter.com/BZVUNgD08s
— Gazet van Antwerpen (@gva) June 16, 2023
Studentenverbindungen haben weltweit den Ruf, erniedrigende Rituale für Neuankömmlinge durchzuführen. In Belgien galt die Lage lange als besonders prekär. Die Uni Löwen erliess vor zehn Jahren deshalb eine Charta, um Verhaltensregeln für Aufnahmerituale zu erlassen. Reuzegom, welche nicht an die Uni angegliedert ist, weigerte sich aber, diese zu unterschreiben.
Als Sanda Dia am 6. Dezember 2018 mit zwei Kommilitonen zu seinem Aufnahmeritual antritt, wartet auf ihn deshalb ein rund 30-stündiges Programm, das fast nach Folter tönt. Dia muss zunächst Unmengen an Alkohol trinken, Wasser darf er nicht mehr zu sich nehmen. Dia schläft daraufhin kurz ein. Videos zeigen, wie die anderen währenddessen auf ihn pinkeln.
Dann wird er wieder geweckt. Die Prozedur geht auf dem Land weiter: Mitten im Winter müssen die drei Aufnahme-Kandidaten eine Grube ausheben, diese mit kaltem Wasser füllen und stundenlang darin ausharren. Währenddessen müssen sie weitere Proben über sich ergehen lassen – sie beissen lebenden Mäusen und einem Aal den Kopf ab, essen einen lebenden Goldfisch und trinken so viel Fischöl, bis sie sich übergeben müssen.
Kurz darauf bricht Sanda Dia in der Grube zusammen. Laut Medienberichten dauert es zwei Stunden, bis die Ambulanz gerufen wird. Dia wird sofort ins Krankenhaus gebracht, seine Körpertemperatur beträgt nur noch 28,7 Grad. Kurz darauf stirbt der 20-Jährige in der Folge eines multiplen Organversagens.
Der Fall Sanda Dia erreicht die breite Öffentlichkeit lange nicht. Die Studenten, die an der Prozedur beteiligt waren, versuchen, die Spuren unter den Tisch zu kehren, wie die Polizei später feststellt. Sie löschen sämtliche Videos und Bilder der verheerenden Stunden und lösen ihre gemeinsame WhatsApp-Gruppe auf.
An der Universität wird der Fall thematisiert, doch auf grössere Strafen wird verzichtet. Die beteiligten Studierenden werden nur kurzzeitig suspendiert, sie müssen Sozialstunden leisten und Essays über Studentenverbindungen und deren Rituale schreiben. Reuzegom wird aufgelöst.
Doch ganz vom Tisch ist die Geschichte damit nicht: Zwei Jahre nach Dias Tod veröffentlicht die «New York Times» eine grosse Geschichte über Sanda Dias Tod, auch die flämische Zeitung «Nieuwsblad» deckt weitere Details des Aufnahmeverfahrens auf. Kurz darauf übernimmt die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen.
Am 26. Mai dieses Jahres steht schliesslich das Urteil: Die 18 jungen Männer, welche am Ritual beteiligt waren, werden der unbeabsichtigten Tötung, der erniedrigenden Behandlung und der Tierquälerei schuldig befunden. Als Strafe müssen sie 200 bis 300 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten sowie eine Busse von 400 Euro und Schadenersatz bezahlen. Damit kommen die jungen Männer gut weg: Der Staatsanwalt hatte Haftstrafen von bis zu 50 Monaten gefordert.
Das Urteil vom Mai sorgt in Belgien für Aufruhr. In Antwerpen und Brüssel ziehen Demonstranten auf die Strasse und werfen dem Gericht «Klassenjustiz» vor. Hätte es sich bei den verantwortlichen Studierenden nicht um wohlhabende weisse Leute gehandelt, wäre das Urteil anders ausgefallen, kritisieren die zumeist jungen und linken Demonstrantinnen und Demonstranten.
Die Rassismus-Vorwürfe sind in Belgien, vor allem in den flämischen Regionen, nicht neu. Im reicheren Teil des Landes sind derzeit nationalistische und separatistische Bewegungen im Aufwind. Bei den letzten flämischen Parlamentswahlen erlebte die rechtsradikale Regionalpartei Vlaams Belang einen veritablen Boom und wurde zur zweitstärksten Partei im Parlament. Dabei wird nicht nur ein starker Anti-Migrations-Kurs gefahren: Auch die belgische Kolonialgeschichte im Kongo wird immer weniger kritisch betrachtet.
Wie Recherchen diverser Medien zeigen, waren ähnliche Tendenzen auch in der Studentenverbindung Reuzegom zu erkennen. Die Vorwürfe sind happig: In einer Rede soll «von unserem guten deutschen Freund Hitler» die Rede gewesen sein, Bilder im Internet zeigen Mitglieder, die in Roben des Ku-Klux-Klans posieren, in einem Video ist zu sehen, wie Studenten vor einem obdachlosen schwarzen Mann «Kongo gehört uns» singen. Und der einzige Schwarze der Studentenverbindung wurde offenbar «Rafiki» genannt – der Name des Affen aus dem «König der Löwen».
Aufgrund dieser Berichte vermuten viele, Sanda Dia könnte wegen seiner Hautfarbe ein besonders heftiges Ritual erlebt haben. Zeugen zufolge soll der Hauptangeklagte angekündigt haben, das Aufnahmeritual für Dia und seine beiden Kommilitonen solle «wirklich brutal» werden. Auch in den Wochen zuvor soll Dia immer wieder abschätzig behandelt worden sein. Offenbar wurde er mit dem N-Wort rassistisch beleidigt, zudem sei er «wie ein Objekt» behandelt worden, so ein ehemaliger Präsident der Studentenvereinigung der Universität. «Ihr Argument war, dass schwarze Leute für weisse Leute arbeiten müssen.»
Die beteiligten Studenten bestreiten, Dia aus rassistischen Gründen anders behandelt zu haben. Einige von ihnen entschuldigten sich während des Gerichtsprozesses bei den Angehörigen. Sanda sei ihr Freund gewesen, sagen sie. Auch in den Gerichtsakten gibt es keine Belege, dass Dia wegen seiner Hautfarbe besonders schlecht behandelt wurde. Der Anwalt der Angeklagten betonte, Dia habe allen Aufgaben zugestimmt, es sei nichts ohne sein Einverständnis passiert.
Kurz nach der Verkündung des Urteils heizt Acid, der erfolgreichste YouTuber Belgiens, die Debatten rund um den Fall Sanda Dia an. Nathan Vandergunst, wie der Flame mit bürgerlichem Namen heisst, publiziert ein Video, in welchem er sich über das Urteil enerviert. Die Strafen seien viel zu niedrig, so Acid zu seinen knapp 530'000 Abonnenten. Dieser fordert deshalb, die damaligen Mitglieder von Reuzegom «zu canceln» – und veröffentlicht dazu die Namen von vier jungen Männern.
Lange online bleibt dieses Video aber nicht. YouTube greift umgehend ein und nimmt die Aufnahme mit den Namen aus dem Netz. Zudem wird Acids Account gesperrt. Davon lässt sich der 23-Jährige aber nicht abschrecken: Sobald sein Kanal wieder online ist, postet er ein weiteres Video, in welchem er den Fall Sanda Dia erneut thematisiert. Und dies zeigt Wirkung: Die Proteste nehmen zu, nicht nur in den belgischen Städten Antwerpen, Brüssel, Gent und Löwen gehen die Leute auf die Strasse, sondern auch in den Niederlanden. «Alle sind einfach wütend und enttäuscht über das belgische Justizsystem», so eine Studentin gegenüber der BBC in Brüssel.
Seine Videos haben für Acid nun ein juristisches Nachspiel. Einer der Männer, dessen Namen der YouTuber publiziert hatte – mittlerweile ist er bei der konservativen Partei Nieuw-Vlaamse Alliantie tätig –, verklagt Acid, wie sein Anwalt gegenüber «Nieuwsblad» bestätigt. Der Vater des Klägers besitzt ein Edel-Restaurant, welches nach der Veröffentlichung des Namens mit negativen Bewertungen und Botschaften geflutet wurde.
Acid wird unter anderem Hassrede und Belästigung vorgeworfen. Nun muss er seinerseits im schlimmsten Fall mit einer Haftstrafe rechnen. Der Fall wird im September vor einem Gericht in Brügge verhandelt. Acid zeigt sich schockiert: «Diese Rassisten, die Hitler vergöttern, die sich Ku-Klux-Klan-Kutten überziehen, einer von denen verklagt mich jetzt im Namen des Antidiskriminierungsgesetzes», sagt er.
Ob die Proteste im Fall Sanda Dia weiteren Einfluss auf den Entscheid der Gerichte haben werden, bleibt unklar. Sanda Dias Vater hat auf eine Berufung verzichtet. In der Politik dürfte das Thema aber weiterhin bleiben. «Es ist an der Zeit, dass wir darüber diskutieren, wie wir die Klassengerechtigkeit angehen», fordert der flämische Abgeordnete Jos D'Haese der marxistischen Partij van de Arbeid, welcher ebenfalls demonstrierte, gegenüber dem «Nieuwsblad».
400 Euro für ein Leben !