1998 brachte eine russische Proton-Rakete das erste Modul der Internationalen Raumstation (ISS) ins All. Ursprünglich sollte die ISS bis 2020 im Orbit bleiben, doch sie umkreist die Erde noch immer und wird das voraussichtlich bis mindestens 2030 tun. Die Raumstation, mittlerweile zum grössten menschengemachten Objekt im All ausgebaut, wird unter anderem von der NASA, der Europäischen Weltraumagentur (ESA) und der russischen Weltraumagentur Roskosmos betrieben. Sie gilt daher als Symbol für Frieden und internationale Zusammenarbeit.
Zumindest bis zum 24. Februar 2022. An diesem Tag überfiel die russische Armee die Ukraine; der Beginn eines nunmehr beinahe dreijährigen blutigen Krieges. Der Westen, allen voran die USA, unterstützte das angegriffene Land und verschärfte die ohnehin wegen der Annexion der Krim 2014 verhängten Sanktionen erheblich. Damit stellte sich die Frage, wie stark der irdische Konflikt die Zusammenarbeit im Orbit beeinträchtigen oder gar verunmöglichen würde.
Am 24. Februar befanden sich drei Astronauten und eine Astronautin der NASA an Bord der ISS, daneben zwei russische Kosmonauten und der Deutsche Matthias Maurer von der ESA. Zunächst war nichts Offizielles zu vernehmen, ob der Krieg auf der ISS ein Thema war. ESA-Generaldirektor Josef Aschbacher betonte aber, dass die Crew sehr gut zusammenarbeite. «Matthias hat die Hoffnung ausgedrückt, dass wir Erdlinge auf dem Erdboden hier uns vertragen, weil es einfach unvorstellbar ist, was hier passiert, gerade aus dem Weltall gesehen», fügte er hinzu.
Maurer kehrte im Mai zur Erde zurück und sagte bei seiner ersten Pressekonferenz in Köln, die Besatzung sei gut über den russischen Überfall auf die Ukraine informiert gewesen. Man sei «entsetzt und betroffen gewesen, wobei es keinen Unterschied unter uns» gegeben habe. Die internationale Besatzung sei wie eine «eingeschworene Familie» gewesen, sagte Maurer und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass damit eine Brücke gebaut worden sei, die die Menschen wieder «auf den normalen Weg» zurückführen werde.
Im November gab Maurer dem deutschen Sender SWR ein Interview, in dem er ausführlich die Situation auf der ISS schilderte, als die Crew vom Kriegsbeginn erfuhr. Er erzählte, der Krieg sei selbst vom Weltall zu erkennen gewesen: Beim nächtlichen Überflug über Europa habe man dort einen dunklen Fleck gesehen, während der Rest des Kontinents hell erleuchtet war. «Das war so auffällig, das hat uns so tief getroffen, das zu sehen», sagte Maurer. «Das war eine ganz entsetzliche Vorstellung, dass da unten mitten in Europa ein Krieg ausgebrochen ist. Wir oben im All. Wir leben in so einer heilen Welt, in so einer idealen Welt.»
Der deutsche Astronaut suchte dann das Gespräch mit den russischen Kollegen. Mit Anton Schkaplerow, dessen Familie auf der Krim lebt, sei ihm das gelungen, erzählte Maurer. «Es war für mich ganz einfach, als Einstieg zu fragen: ‹Wie geht es deiner Familie? Ist die betroffen oder ist die in Gefahr?›» Es habe sich gezeigt, dass Schkaplerow klar gegen den Krieg gewesen sei, aber der russischen Propaganda, wonach in der Ukraine Terroristen bekämpft würden, Glauben schenkte. Einige Tage später hätten dann aber Schkaplerow und auch sein Landsmann Dobrow verstanden, dass es sich um einen russischen Angriffskrieg handelte. Beide hätten sich davon distanziert, sagte Maurer.
Maurer berichtete zudem, im amerikanischen Teil der ISS, in dem auch er wohnte, habe es eine Diskussion gegeben, ob man von der ISS aus eine Friedensbotschaft zur Erde schicken solle. Doch die Bodenkontrolle in Houston riet ihnen dringend davon ab, wie Maurer erzählte. Eine solche Botschaft sei gut gemeint, werde aber aus dem Zusammenhang gerissen und gegen sie verwendet werden, warnte Houston.
Bevor Schaplerow und Dobrow Ende März zur Erde zurückkehrten, traf am 18. März die neue russische Crew auf der ISS ein. Die Kosmonauten trugen gelbe Overalls mit blauen Aufnähern, was im Westen teilweise als versteckte Solidaritätsbekundung mit der Ukraine missverstanden wurde. Von da an trugen die Russen dicke Jacken. Als Maurer einen von ihnen fragte, warum er diese unpraktische Jacke trage, erhielt er zur Antwort, die Kosmonauten hätten nur gelbe Pullover, dürften diese aber auf Anweisung der Moskauer Bodenkontrolle nicht mehr tragen. Maurer schenkte dem russischen Kollegen darauf seinen blauen Pullover. Und er liess die Russen über seinen Account ihre Musik bestellen, da sie mit ihren russischen Kreditkarten keine westlichen Musikstreams mehr abonnieren konnten.
Die russische Raumfahrtagentur Roskosmos und die russischen Medien bemühten sich zunächst, den Krieg nicht zu erwähnen – auf Pressekonferenzen in Swjosdny Gorodok, dem Sternenstädtchen bei Moskau, und in der Berichterstattung aus der ISS selbst wurde er nicht erwähnt. Doch dann verschärfte sich der Ton. Roskosmos-Chef Dmitri Rogosin verbreitete etwa ein von der Weltraumagentur produziertes Video, in dem das russische Segment der ISS abgekoppelt wurde. Als Reaktion auf die EU-Sanktionen zog Russland zudem sein Personal vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guayana ab. Kouru ist der einzige eigene Zugang der ESA ins All.
Zugleich stoppte Moskau die Lieferung von Raketentriebwerken in die USA. «Lasst sie auf ihren Besen ins All fliegen», höhnte Rogosin. Russische Medien diskutierten die Frage, ob der russische und der amerikanische Teil der ISS voneinander entkoppelt werden könnten. Roskosmos hatte die Zusammenarbeit mit der NASA auch bereits während der Krise in der Ukraine im Jahr 2014 in Frage gestellt, nachdem die NASA die Kooperation mit der russischen Behörde in einigen Bereichen eingestellt hatte – jedoch nicht bei der ISS.
Roskosmos-Chef Rogosin, ein enger Vertrauter des russischen Präsidenten Wladimir Putin, schwor die Mitarbeiter der Raumfahrtagentur auf den Krieg ein: «Alles für die Front, alles für den Sieg», verkündete er im Juni 2022 auf einer Konferenz. Roskosmos verfüge über «kolossale Technologien, die in direkten Beziehungen zu den Kriegen der neuen Generation stehen». Diese müssten jetzt voll für die russischen Streitkräfte mobilisiert werden.
Als russische Truppen am 3. Juli die ukrainische Stadt Lyssytschansk – die letzte bedeutende Bastion der Ukraine im Gebiet Luhansk – eroberten, gratulierten die russischen Kosmonauten Denis Matwejew, Sergej Korsakow und Oleg Artemjew und hissten die Flagge von Luhansk im russischen Segment der ISS. Die NASA verurteilte die Flaggenaktion umgehend als Missbrauch der ISS für politische Zwecke. Der Krieg gegen die Ukraine werde damit unterstützt, was im Grunde nicht mit der Hauptaufgabe der Station vereinbar sei, Wissenschaft und Technologie für friedliche Zwecke zu entwickeln.
Im Juli 2022 berief Putin Juri Borissow zum neuen Chef von Roskosmos. Dieser erklärte, der Ausstieg Russlands aus der ISS «nach 2024» sei beschlossene Sache: «Natürlich werden wir alle unsere Verpflichtungen gegenüber unseren Partnern erfüllen, aber die Entscheidung über den Ausstieg aus dieser Station nach 2024 ist gefallen.» Eine Woche später stellte Borissow allerdings klar, «nach 2024» könne auch 2025, 2028 oder 2030 sein. Im Februar 2023 teilte Roskosmos dann mit, man werde die ISS bis 2028 weiterbetreiben.
Unlängst, im September 2024, sprach sich Borissow für eine Verlängerung der bis 2025 geltenden Vereinbarung mit den USA zu den gemeinsamen Raumflügen aus. Dies sei für einen verlässlichen Betrieb der ISS wichtig. Überdies bot er der NASA Hilfe für die Rückkehr der beiden auf der ISS gestrandeten Starliner-Astronauten an: Falls gewünscht, könnten Butch Wilmore und Suni Williams mit einem Sojus-Raumschiff zurückkehren.
Die ISS ist zwar modular aufgebaut, aber die Module sind durch diverse Kabel und Leitungen miteinander verbunden, sodass eine Abkopplung kaum möglich ist, ohne den Betrieb zu gefährden. Sogar wenn eine Trennung erfolgreich durchgeführt werden könnte, würde dies sowohl die Amerikaner als auch die Russen vor grosse Probleme stellen, da sie voneinander abhängig sind.
Für die Amerikaner wäre eine Abkopplung ihrer Module verheerend, weil diese dann abstürzen würden. Das liegt daran, dass die ISS aufgrund der Restreibung mit der Atmosphäre ständig an Höhe verliert und deshalb in regelmässigen Abständen wieder auf eine höhere Umlaufbahn gebracht werden muss. Diese Aufgabe können derzeit nur die russischen Progress-Raumschiffe erfüllen, die Fracht zur ISS bringen. Die Russen wiederum dürften vor einem Alleingang zurückschrecken, weil die Stromversorgung der Raumstation nahezu vollständig in amerikanischen Händen liegt.
ESA-Generaldirektor Aschbacher sagte dazu im März 2022: «Das System ist sehr eng verflochten, man ist abhängig voneinander.» Dies sei ja auch genau der Zweck der ISS gewesen, als sie aufgebaut wurde: ein Friedensprojekt zwischen verschiedenen Nationen, Völkern und Kulturen, «und das hat ja auch mehr als 20 Jahre sehr gut funktioniert. Jetzt haben wir eine neue Situation».
Tatsächlich war die Raumfahrt einer der wenigen Bereiche, in denen Amerikaner und Russen trotz aller Spannungen und Konflikte meist mehr oder weniger eng zusammenarbeiteten – zumindest nachdem der Wettlauf zum Mond 1969 mit der Apollo-Mondlandung beendet war. Selbst im Kalten Krieg hatten die USA und die Sowjetunion im All zusammengearbeitet – beispielsweise 1975 bei der Ankopplung eines Apollo- und eines Sojus-Raumschiffs.