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Reportage

Reportage von der Suwalki-Lücke: Hochspannung an der russischen Grenze

Menschenschmuggler, Drohnen, Stacheldraht: Hochspannung an Putins Einfallstor

Sie ist der Albtraum aller Nato-Strategen: die rund 100 Kilometer lange Suwalki-Lücke zwischen Litauen und Polen. Für unseren Kriegsreporter hielt sie einige Überraschungen bereit.
05.11.2025, 17:2805.11.2025, 17:28
Kurt Pelda, Suwalki, Silene / ch media

Suwalki wirkt verschlafen. Die Stadt im Nordosten Polens liegt an der strategisch wichtigen Landverbindung zwischen Mitteleuropa und dem Baltikum – eingeklemmt zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und dem russischen Satellitenstaat Belarus (Weissrussland).

Polens verstärkte Grenze Polen Suwalki Litauen Belarus Baltikum Karte map
Bild: chmedia

Die Autobahn, die durch den sogenannten Suwalki-Korridor führt, ist auch für die Versorgung der Ukraine wichtig. Immer wieder überhole ich ukrainische Tanklastwagen, die sich im benachbarten Litauen mit Diesel und Benzin eindecken. Nicht weit von der litauischen Ostseeküste befindet sich dort die einzige Raffinerie des Baltikums.

Polen rüstet auf

Ein bisschen Abwechslung bringen zwei vierachsige Lastwagen mit aufmontierten schweren Raketenwerfern, die in Suwalki gerade um einen Verkehrskreisel fahren. Die in Polen hergestellten Fahrzeuge sind mit einem imposanten südkoreanischen Werfer ausgerüstet, der Präzisionslenkwaffen – je nach Konfiguration – über Entfernungen von 80 oder sogar ungefähr 290 Kilometer abfeuern kann.

A Lithuanian soldier takes part in the combined arms live fire military exercise 'Strong Griffon 2025' at a training range in Pabrade, north of the capital Vilnius, Lithuania, Wednesday, Oct ...
Ein litauischer Soldat bei einer Übung Ende Oktober.Bild: keystone

Polen hat 290 Stück dieses Homar-K genannten Systems bestellt, um nicht ganz vom amerikanischen Konkurrenzprodukt Himars abhängig zu sein. Das Land wird so schon bald über die stärksten Artilleriestreitkräfte in Europa westlich der Ukraine verfügen. Der Adressat der Aufrüstung ist klar: Es geht um die Bedrohung durch Russland, das mit seinen Drohnenflügen über polnischem Territorium die gesamte Bevölkerung aufgeschreckt hat.

Kaum jemand in Polen macht sich Illusionen darüber, was mit dem Land geschehen könnte, wenn es seine Wehrbereitschaft nicht erhöht. Die Menschen haben nicht vergessen, wie Hitler und Stalin 1939 gemeinsam Polen zermalmten und damit den Zweiten Weltkrieg auslösten. Nach 1945 blieb das Land unter der sowjetischen Fuchtel, bis zum Fall des Eisernen Vorhangs 1989. Um einen russischen Angriff abzuschrecken, baut Polen nun entlang der Grenze zu Belarus und Russland Panzersperren und Befestigungen. Das Werk, das auch Geräte zur Drohnenabwehr beinhaltet, nennen die Polen «Ostschild». Es soll 2028 fertiggestellt sein.

Die Flagge der Roten Armee

Von Suwalki bis zum Dreiländereck zwischen Polen, Litauen und dem russischen Oblast Kaliningrad ist es nur eine kurze Autofahrt. Die Aussengrenze der beiden Nato-Staaten ist mit Überwachungskameras und Zäunen aus Rasierklingendraht geschützt. Auf der russischen Seite weht eine rote Fahne; eine Kopie jener Flagge, die Rotarmisten 1945 auf dem Reichstag in Berlin hissten.

Die Flagge der Roten Armee am Dreiländereck von Polen, Litauen und Russland
Die Flagge der Roten Armee am DreiländereckBild: Kurt Pelda

Ich spaziere noch etwas der russischen Grenze entlang. Als ich später mit dem Auto wegfahre, dauert es nur wenige Minuten, bis ein polnischer Polizeiwagen mit Blaulicht heranbraust. Die Beamten wollen wissen, ob ich illegale Migranten über die Grenze geschmuggelt habe.

Wirtschaftsflüchtlinge aus Asien und Afrika gehören zu Moskaus Waffen im Schattenkrieg gegen den Westen. Allerdings kommen die meisten Migranten nicht über Kaliningrad nach Polen oder ins Baltikum, sondern via Belarus oder das russische Kernland. In letzter Zeit eskaliert der Kreml seinen hybriden Krieg auch durch den Einsatz von Drohnen und Kampfflugzeugen, die den Luftraum von Nato-Staaten verletzen.

Deutsche Panzerbrigade

Die Fahrt geht weiter nach Litauen. Die Hauptstadt Vilnius ist keine 30 Kilometer von der weissrussischen Grenze entfernt. Um die Ostflanke der Nato und den Suwalki-Korridor besser zu schützen, hat die deutsche Bundeswehr die 45. Panzerbrigade nach Litauen entsandt. Diese veröffentlichte kürzlich ein martialisches Video, in dem neben den schweren Waffen der Einheit auch Fackeln zu sehen und Hurra-Rufe von Soldaten zu hören sind. Damit verursachte die Brigade in Deutschland einige Aufregung – vor allem in den prorussischen Szenen an den extremen Rändern des politischen Spektrums.

Es ist nämlich das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg, dass ein solcher Verband dauerhaft im Ausland stationiert wird. Allerdings wird die «Brigade Litauen» erst 2027 den Vollbestand von etwa 4800 Soldaten erreichen. Die überaus langsame, zahme und bürokratische Antwort der Nato-Staaten auf Moskaus Eskalation wirkt auf Putin wie eine Einladung, es vielleicht auch noch mit stärkerem Tobak zu probieren.

Die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland gehören gemessen an der Wirtschaftsleistung zwar zu den tatkräftigsten Unterstützern der Ukraine, haben ihre eigenen Armeen aber sträflich vernachlässigt. Darum sind sie nun auf Unterstützung durch Streitkräfte anderer Nato-Staaten angewiesen. Das gilt vor allem auch für die Luftverteidigung, denn die Balten verfügen über keine Kampfflugzeuge. Wenn die Russen das durch Überflüge mit eigenen Jets ausnützen, müssen Flugzeuge der Alliierten aufsteigen und die Eindringlinge abfangen.

Im Sperrgebiet

Wie Polen sind auch die baltischen Länder damit beschäftigt, ihre Ostbezirke gegen einen möglichen Angriff durch Russland zu befestigen. Doch wie weit sind diese Anstrengungen gediehen? Um das herauszufinden, fahre ich zum Sila-See in Lettland, der nicht einmal drei Kilometer von der Grenze zu Belarus entfernt ist. Zuerst versuche ich zu Fuss zur Grenze zu wandern, weil ich nicht nochmals von der Polizei angehalten und befragt werden möchte.

Doch es hat geregnet, und das Gelände ist sumpfig. Während ich mich im Zickzack durch den pfadlosen Wald bewege, sinke ich manchmal bis zu den Knien in Morast und Wasser ein. Am Ende droht mich die Dunkelheit in der Wildnis zu überraschen. Darum möchte ich es am nächsten Tag nochmals versuchen, aus Zeitgründen aber mit dem Geländewagen.

Der Aufenthalt im Grenzbereich ist eigentlich verboten, es handelt sich um ein Sperrgebiet. Denn auch Lettland hat schlechte Erfahrungen mit dem Einsickern von Migranten aus Belarus gemacht. Doch heute geht es nicht nur um illegale Einwanderung, sondern vor allem um Moskaus Drohungen mit militärischer Gewalt. Der Kreml spielt sich als Schutzherr der in den baltischen Staaten lebenden russischen Minderheit auf. Ein Teil dieser Russen könnte Moskau im Kriegsfall als fünfte Kolonne dienen.

Strassenbau an der Grenze zwischen Lettland und Belarus
Strassenbau an der Grenze zwischen Lettland und Belarus.Bild: Kurt Pelda

Am nächsten Morgen versuche ich mein Glück aufs Neue – diesmal bei strahlendem Sonnenschein. In einer verlassenen Feriensiedlung am Seeufer gibt es nur noch verfallene Hütten. Noch näher an der Grenze werden dann die ersten lettischen Bauarbeiten sichtbar. Doch man ist dort noch nicht mit Befestigungen beschäftigt, sondern erst mit einer Zufahrtsstrasse, auf der künftig Baumaschinen und schweres Material herangeschafft werden können. Besonders abschreckend wirkt das nicht.

Ein lettischer Strafbefehl

Auf dem Rückweg passiert dann, was passieren musste: Eine im Wald versteckte Kamera des lettischen Grenzschutzes hat ein Foto meines Fahrzeugs im Sperrgebiet geschossen. Ein Polizeiauto mit einer Frau und einem Mann wartet auf der Rückfahrt am Feldweg. Ich werde angehalten, und es folgt wieder eine Kontrolle. Die Beamten sprechen kein Englisch und wollen mich überreden, ein lettisches Dokument zu unterschreiben. Ich weigere mich.

Dann rufen die Polizisten den Grenzschutz, der nach etwa einer halben Stunde mit einem kleinen Geländefahrzeug eintrifft. Die Beamten diskutieren lange miteinander. Am Schluss entscheidet der Leiter der Grenzschutzabteilung in der 25 Kilometer entfernten Stadt Daugavpils, mich per E-Mail und Strafbefehl mit einer kleinen Geldbusse zu belegen – wegen Verstosses gegen das Gesetz über die Staatsgrenze der Republik Lettland.

Als wahrscheinlichste Stelle für einen russischen Angriff auf Nato-Territorium gilt das Baltikum. Allerdings gehen Militärexperten davon aus, dass Russland wegen des andauernden Kriegs in der Ukraine im Moment zu wenig Ressourcen hat, um einen Zweifrontenkrieg zu führen. Viele Beobachter glauben deshalb, dass ein Angriff erst ab dem Jahr 2029 zu erwarten sei. Allerdings ist es auch offensichtlich, dass Moskau trotz der horrenden Verluste in der Ukraine versucht, eine strategische Reserve aufzubauen, die es am Ende im Baltikum oder gegen Finnland in Marsch setzen könnte.

Solche Planspiele wirken auf die meisten Westeuropäer absurd. Doch Geheimdienste sehen das anders. Drohnen in fremden Lufträumen oder Auftragsmorde an Oppositionellen im Ausland nannte der Chef des deutschen Auslandsgeheimdiensts, Martin Jäger, kürzlich eine «neue Qualität der Konfrontation». Russland werde «wenn nötig auch eine direkte militärische Auseinandersetzung mit der Nato nicht scheuen», meinte Jäger zudem. Das Handeln des Kreml sei darauf angelegt, die Nato zu unterminieren, Europas Demokratien zu destabilisieren und die Gesellschaften zu spalten und einzuschüchtern.

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Die beliebtesten Kommentare
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Jazzdaughter
05.11.2025 17:51registriert Oktober 2016
Der Artikel ist gut und wichtig. Aber. Als Osteuropäerin ist es für mich typische westliche Überheblichkeit, sich nicht an die Angaben der örtlichen Behörden zu halten und einfach mal die Sperrzonen für Artikelklicks durchzuwandern. Ernsthaft, das behindert die Arbeit der Armee in einer sonst schon angespannten Situation. Es macht mich richtig wütend.
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