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Suwalki Gap: Die gefährliche Bruchstelle der NATO

A farmer drives on a road, about 10 km from Polish-Lithuanian border in Gulbieniszki, Poland, Thursday, July 7, 2022. The Suwalki gap, which stretches about 100 kilometres along the Lithuanian-Polish  ...
Suwalki Gap: Die strategisch wichtige Gegend ist nur dünn besiedelt.Bild: AP

Das ist die gefährlichste Bruchstelle der Nato

Kein Szenario eines möglichen russischen Angriffs auf die Nato kommt ohne den Suwalki Gap aus. Was hat es mit dem «gefährlichsten Ort der Welt» auf sich?
05.10.2025, 10:4305.10.2025, 10:43

Nur 65 Kilometer lang ist dieser schmale Streifen Land, der zuerst lediglich von der Nato intern als «Suwalki Gap» (Suwalki-Lücke oder Suwalki-Korridor) bezeichnet wurde. Das Gebiet entlang der polnisch-litauischen Grenze ist nur dünn besiedelt und würde in normalen Zeiten kaum Aufmerksamkeit geniessen. Doch die Zeiten sind nicht mehr normal.

Die zunehmend aggressive Haltung Russlands gegenüber der Nato, die sich in häufigen Luftraumverletzungen durch Drohnen und sogar Kampfjets zeigt, hat den Suwalki Gap in den Fokus gerückt. Wann immer mögliche Szenarien eines russischen Angriffs auf Nato-Staaten durchgespielt werden, steht er im Zentrum. Warum ist dieser Streifen, den die Wochenzeitung Politico – freilich mit gehöriger Übertreibung – den «gefährlichsten Ort der Welt» genannt hat, so wichtig?

Wo liegt der Suwalki Gap?

Der Korridor erstreckt sich zwischen der Nordostecke Polens und der Südgrenze Litauens. Die Grenze beginnt im Nordwesten beim Dreiländereck von Polen, Litauen und der russischen Exklave Kaliningrad und verläuft in südöstlicher Richtung zum Dreiländereck Polen-Belarus-Litauen. Sie ist am Boden rund 100 Kilometer lang, doch Luftlinie sind die beiden Dreiländerecke nur 65 Kilometer voneinander entfernt.

Suwalki Gap, Suwalki-Korridor
https://mapy.com/de/zakladni?source=area&id=1210210&x=23.1818390&y=54.2294293&z=10
Der Suwalki-Korridor liegt an der polnisch-litauischen Grenze, zwischen der Oblast Kaliningrad im Nordwesten und Belarus im Südosten.Karte: mapy.com

Damit bildet der Suwalki Gap – der nach der polnischen Stadt Suwalki in der Woiwodschaft Podlachien benannt ist – eine schmale Landverbindung zwischen den baltischen Staaten und den anderen Nato- und EU-Staaten. Bei dieser Engstelle ist die Distanz zwischen der russischen Exklave Kaliningrad und dem mit Russland verbündeten Belarus am geringsten.

Suwalki Gap, Suwalki-Lücke
Der Suwalki Gap bildet eine Engstelle zwischen Polen und den baltischen Staaten.Karte: watson

Wie ist die Lücke entstanden?

Vor dem Ersten Weltkrieg gehörten Suwalki und die umliegende Landschaft Sudauen zum Kaiserreich Russland, das sich den grössten Teil des ehemaligen polnischen Staates und auch alle baltischen Länder einverleibt hatte. Westlich davon lag Ostpreussen, die nordöstlichste Provinz Preussens, das wiederum ein Land des Deutschen Reichs war. Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden Polen und Litauen als unabhängige Staaten, die das deutsche Ostpreussen und die Sowjetunion voneinander trennten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ostpreussen aufgeteilt; der Norden des ehemals deutschen Gebiets kam als Oblast Kaliningrad (Königsberg) zur Sowjetunion, der Süden zu Polen. Die heutige polnisch-litauische Grenze bildete einen Teil der polnisch-sowjetischen Grenze, da Litauen und Belarus Sowjetrepubliken waren. Mit dem Untergang der Sowjetunion 1991 wurden beide Staaten unabhängig – und die Oblast Kaliningrad wurde eine russische Exklave.

Die deutsche Ostgrenze und die Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg.
https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/dt.%20Ostgrenze%20und%20Westverschiebung%20Polens.pdf
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Ostpreussen geteilt. Der Norden um Königsberg (Kaliningrad) kam unter sowjetische Kontrolle, ebenso der Osten von Vorkriegspolen. Litauen, vor dem Krieg selbständig, wurde zu einer Sowjetrepublik (inklusive Wilnagebiet). Karte: bpb.de

Strategisch bedeutsam wurde die Landverbindung zwischen Polen und Litauen mit dem Beitritt dieser Länder zur Nato (1999 Polen, 2004 die baltischen Länder) und in geringerem Masse auch zur EU (2004). Erst mit der russischen Annexion der ukrainischen Krim 2014, die die geopolitischen Spannungen in Europa verschärfte, begann die Nato den Korridor zusehends als Schwachstelle zu betrachten – 2015 prägte der ehemalige estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves den Begriff «Suwalki Gap».

Warum ist der Suwalki Gap strategisch wichtig?

Der US-General Ben Hodges, damals Kommandant der amerikanischen Bodentruppen in Europa, nannte die Engstelle «einen der brisantesten Punkte auf der Weltkarte». Sie wird zuweilen auch als «weicher Unterbauch der Nato» bezeichnet. Der Grund dafür ist, dass russische Truppen hier im Falle eines Kriegs zwischen Russland und der Nato die schmale Landverbindung der baltischen Nato-Länder mit den restlichen Nato-Staaten unterbrechen könnten. Der Nachschub für Nato-Truppen im Baltikum wäre dann nur noch über den See- und Luftweg möglich. Die baltischen Staaten, deren Armeen klein sind und in denen teilweise signifikante russische Minderheiten leben, dürften das primäre Ziel einer russischen Aggression gegen die Nato darstellen.

Die Nato-Generäle befürchten einen russischen Zangenangriff, der zum einen von der militärisch stark ausgebauten Exklave Kaliningrad – einem «unsinkbaren Flugzeugträger» – ausgehen würde und zum anderen von Belarus her. Das autoritär regierte Belarus ist seit 1999 durch eine Staatenunion politisch, wirtschaftlich und militärisch eng an Russland gebunden. Der Kreml hat taktische Atomwaffen in Belarus stationiert und unterhält Truppen dort. Zudem führt Russland den Krieg gegen die Ukraine auch von diesem Nachbarland aus.

Kaliningrad: Torpedoboot Komsomolez Typ 123-BIZ, Denkmal für die Seefahrer der Ostsee.
Denkmal für die Seeleute der Baltischen Flotte in Kaliningrad. Bild: watson

Die an der Ostsee gelegene, gut 15'000 km² grosse Exklave Kaliningrad mit rund 950'000 Einwohnern ist der am weitesten westlich gelegene Teil Russlands. Kaliningrad, wo sich der Hauptstützpunkt der russischen Baltischen Flotte befindet, erlaubt es Russland, eine strategisch bedeutende Position in der Ostsee zu halten – der andere russische Meeranstoss bei St. Petersburg am östlichen Ende des Finnischen Meerbusens kann dagegen von den Marinestützpunkten in Finnland und Estland leicht blockiert werden.

Der Kreml hat die militärische Präsenz in der Oblast Kaliningrad in den Jahren vor dem Ukraine-Krieg stark erhöht; 2018 wurden dort etwa nuklearfähige Iskander-Kurzstreckenraketen stationiert, deren Einsatz unlängst auch beim fünftägigen «Sapad 2025»-Manöver geübt wurde. Seit 2022 hat Moskau überdies russische Kampfjets mit Luft-Boden-Hyperschall-Raketen vom Typ Kinschal dorthin verlegt.

Demgegenüber ist nach polnischen Angaben ein signifikanter Teil der russischen Truppen kürzlich abgezogen worden, um anderswo eingesetzt zu werden. Bereits im vergangenen Jahr soll Moskau Truppen aus der Exklave verlegt haben. Neues Einsatzgebiet für diese Truppen dürfte die Ukraine sein, ein Teil könnte aber auch an die lange Grenze zu Finnland, Nato-Mitglied seit 2023, verlegt worden sein.

Der durch den russischen Angriff auf die Ukraine motivierte Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato dürfte die strategische Bedeutung des Suwalki Gaps ohnehin etwas mindern. Maritime Unterstützung der baltischen Länder ist nun von Finnland über den relativ schmalen Finnischen Meerbusen nach Estland möglich, und auch die Distanz zwischen der schwedischen Insel Gotland und Lettland beträgt lediglich 150 Kilometer.

NATO-Ostflanke und NATO-Mitglieder Schweden und Finnland.
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=127498315
Die Nato-Ostflanke und die neuen Nato-Mitglieder Schweden und Finnland. Deren Nato-Beitritt hat den strategischen Druck auf die baltischen Länder deutlich verringert. Karte: Wikimedia/maix/watson

Die Sanktionen, die die EU gegen Moskau nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine 2022 verhängt hat, haben die Situation in der Region um Kaliningrad weiter kompliziert. Russland hat das vertraglich zugesicherte Recht, Züge für Passagiere und Güter zwischen Belarus und der Exklave zu betreiben, die über litauisches Territorium fahren. Seit Kriegsbeginn hat Litauen mehrfach solche Züge gestoppt, sehr zum Ärger des Kremls, der dies als illegalen und feindlichen Akt betrachtet.

2022 schlug der Gouverneur der Oblast vor, einen extraterritorialen Korridor durch die Suwalki-Lücke für den Empfang von Gütern aus Russland zu bauen. Dies erinnert an die Forderungen Nazi-Deutschlands unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg nach einer exterritorialen Autobahn durch den sogenannten Polnischen Korridor, der Ostpreussen vom Reich trennte.

Wie verwundbar ist die Schwachstelle?

Ein überraschender russischer Angriff auf den Suwalki Gap könnte laut westlichen Militärexperten die Landverbindung zwischen Polen und dem Baltikum innerhalb von nur 30 bis 60 Stunden abriegeln – noch bevor die Nato eigene Kräfte mobilisiert und verlegt hätte. Die baltischen Staaten mit ihren kleinen Armeen könnten einem solchen Angriff kaum standhalten.

Polen hingegen verfügt über 128'000 aktive Soldaten der Berufsarmee und 36'000 Mitglieder der Territorialverteidigung. Hinzu kommen seit 2017 Kontingente weiterer Nato-Länder, auch der USA, die im Baltikum und in Polen stationiert sind. Diese multinationalen Kampfverbände umfassen jeweils etwa 1000 bis 1800 Soldaten. Sollte Russland beispielsweise in Litauen einmarschieren, müsste es damit rechnen, dass seine Truppen auf amerikanische Soldaten treffen – kein Szenario, das Moskau anstreben dürfte.

Military vehicles takes part in the Lithuanian-Polish Brave Griffin 24/II military exercise near the Suwalki Gap near the Polish border at the Dirmiskes village, Alytus district west of the capital Vi ...
Litauisch-polnisches Manöver nahe dem Suwalki Gap.Bild: AP

Die russischen Verbände in Kaliningrad sind allerdings ohnehin ausgedünnt; es dürfte sich um etwa 12'000 Soldaten handeln. Auf der anderen, der belarussischen Seite des Suwalki Gaps liegen zwei Truppenübungsplätze nahe bei der polnischen bzw. litauischen Grenze. Laut Schätzungen beläuft sich die Stärke der in Belarus stationierten russischen Truppen auf etwa 8000 bis 13'000 Soldaten. Ein Indiz dafür, dass von ihnen derzeit kaum ein Angriff droht, sind die gemeinsamen russisch-belarussischen «Sapad 2025»-Manöver im vergangenen September: Sie waren kleiner und fanden weiter von der Grenze entfernt statt als die vorherigen im Jahr 2021.

epa12379936 A still image taken from handout video provided 15 September 2025 by the Russian Defence ministry press-service shows Iskander-M missile system crews of the Baltic Fleet missile unit pract ...
Übung mit Iskander-Raketen während des «Sapad 2025»-Manövers.Bild: EPA

Die Topografie in der Gegend des Suwalki Gaps begünstigt zudem die Defensive. Die hügelige und teilweise sumpfige Landschaft ist von Wäldern, Flüssen und Seen geprägt, die natürliche Geländehindernisse bilden – kein ideales Gelände für einen Panzerangriff. Mechanisierte Truppen müssten daher über die beiden Hauptstrassen der Region vorrücken, die nicht wirklich für den Transport militärischer Ausrüstung geeignet sind. Was dies bedeutet, wenn der Gegner über Drohnen und mobile Panzerabwehreinheiten verfügt, hat sich in den ersten Wochen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine gezeigt: Die auf Strassen gegen Kiew vorrückenden Panzerkolonnen wurden massiv dezimiert.

Solange die russische Armee ihren äusserst verlustreichen Krieg in der Ukraine führt, ist eine direkte Konfrontation mit den Nato-Kräften in der Region um den Suwalki Gap höchst unwahrscheinlich. Die russischen Streitkräfte verfügen nicht über die notwendigen Reserven, um dort eine weitere Front eröffnen zu können. Anders könnte es allerdings nach einem Ende des Kriegs in der Ukraine aussehen. Falls Putin dann über genügend freie und erst noch kampferfahrene Truppen verfügt, könnte er den Versuch wagen, die Nato im Baltikum zu testen.

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Die beliebtesten Kommentare
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Lenard
05.10.2025 11:16registriert Januar 2022
Wenn ich mir die Karte anschaue frage ich mich ender wie lange es dauert um Kaliningrad durch die nato einzunehmen?
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Viajero
05.10.2025 11:22registriert März 2020
Kaliningrad jetzt in einem konventionellen Präventivschlag einnehmen und als Pfand für den Rückzug des Russen aus der Ukraine verwenden. Niemals würde der möchtegern Zar atomar darauf reagieren, der Preis für den Fleck wäre zu gross. Diese Sprache würde auch von den Russischen Kriegstreibern und -Verbrechern verstanden. Gleichzeitig wäre es ein deutliches Zeichen an China und andere mit kriegerischen Ambitionen.
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Leshi Peci
05.10.2025 12:35registriert September 2025
Russland tut wieder so, als wäre das Suwalki-Gap der Nabel der Welt – dabei ist es nur die nächste Bühne für Putins altes Theaterstück: „Bedrohung simulieren, um Stärke zu zeigen.“ 🎭
Während die NATO über Strategie diskutiert, schiebt Moskau alte Panzer über Landkarten, als wäre’s ein Brettspiel mit Atombomben.
Und das alles, um zu kaschieren, dass im eigenen Land nichts mehr funktioniert – weder Wirtschaft, noch Moral, noch Glaubwürdigkeit.
Russland kämpft nicht um Sicherheit, sondern um Aufmerksamkeit – ein Imperium im Endstadium, das lieber Angst exportiert, als Fortschritt zuzulassen. 💣
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