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Sido kämpft mit Alter Ego: Wie aus dem Sänger Paul Würdig wurde

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Paul Würdig rechnet im neuen Album mit vielem ab – vor allem mit sich selbst.Bild: watson/imago
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Kampf mit seinem Alter Ego: Wie aus dem Ar***fi**mann Paul Würdig wurde

Der deutsche Rapper Sido hat sein neuntes Album, «PAUL», herausgebracht. Die Songs darauf zeigen den Rapper, der früher für Skandale sorgte, von einer zugänglicheren und emotionaleren Seite.
12.12.2022, 19:5914.12.2022, 09:22
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Bahnbrechend sind die Themen, die Sido, auch bekannt als Paul Würdig, in seinem neuen Album «PAUL» anspricht, nicht. Sucht, Entzug, Scheidung und Selbstreflexion sind scheinbar immer prävalente Themen in der Musikindustrie. Und doch hatte ich Tränen in den Augen, als ich das Album zum ersten Mal gehört habe.

Vulnerabilität als neues Markenzeichen

Bevor Sido sein neuntes Studioalbum releaste, gab er Aria Nejati, dem Head of Hip-Hop für Apple Music in Deutschland, Österreich und der Schweiz, ein Interview. Clevere Werbung für das neue Album. Aber das Interview ist viel mehr als nur ein PR-Stunt. Sido ist darin schonungslos ehrlich mit sich selbst. Er schreckt nicht davor zurück, sich erfrischend vulnerabel zu zeigen – und das vor einem Millionenpublikum.

Für Sido war das Schreiben der Songs und das Produzieren des in sich sehr stimmigen Albums der letzte Schritt in seinem Kampf gegen seine Kokainsucht.

Er verarbeitete in dem Album auch die Scheidung von seiner Ex-Frau Charlotte Würdig und die damit einhergehende Angst, seinen Kindern als Vater nicht gerecht zu werden. Sido sagt im Interview: «Für mich ist [mit dem Erscheinen des Albums] eine Phase im Leben abgeschlossen. Eine dunkle Phase in meinem Leben ist damit abgeschlossen.»

«Sex, Drugs and Rock 'n' Roll – Scheidungsgrund.»
Sido

Das Album beginnt mit einem etwas plumpen Intro: der Audioaufnahme einer Vorstellungsrunde in einer Therapiegruppe. Das Intro endet damit, dass Paul sich der Therapiegruppe vorstellt – das macht er dann auch in den insgesamt 13 darauffolgenden Songs.

Die Beats der Songs sind catchy, schon fast heiter, nicht düster. Die Texte dazu sind aber bitterernst.

In «Versager» beschreibt Sido die schlechte, eigentlich nicht existierende Beziehung zu seinem Vater. Im darauffolgenden Song «Rollender Stein» entschuldigt er sich bei seinen Kindern für die Scheidung von ihrer Mutter. Er reflektiert sein Dasein als Vater und thematisiert seine Angst, seine Kinder allein zu lassen und somit genauso zu sein wie sein eigener Vater.
In «Sterne» gib der aus Berlin stammende Rapper tiefe Einblicke in sein Privatleben: «Sex, Drugs and Rock 'n' Roll – Scheidungsgrund. Schei**egal, ich bin aus Stein, nein ich wein’ nicht drum. Doch wenn ich alleine bin, dann wein’ ich drum».

«Doch die Suiten und die Miezen und die Liebe macht mich gar nicht mal so glücklich, wie du glaubst.»
Sido

Der exzessive Drogenmissbrauch und das auf die Scheidung folgende promiskuitive Verhalten sind weitere wichtige Leitmotive in «PAUL». Beide Themen wurden in der Hip-Hop-Szene lange glorifiziert. Der 42-Jährige bricht aber mit dieser Tradition und zeigt dem Hörer in «Gar nicht mal so glücklich», wie dieses glamouröse Leben wirklich ist: «Manchmal hab' ich gar nicht erst geschlafen für drei Tage, denn mal wieder war ich drauf. Meine schlechten Taten und die Gagen und der Wagen, dafür kriegen wir Applaus. Doch die Suiten und die Miezen und die Liebe macht mich gar nicht mal so glücklich, wie du glaubst.»

Sozialkritisch seit der ersten Stunde

Sido, der 2006 noch ein «Schlechtes Vorbild» war und 2014 mit Liedern wie «Strip für mich» die Stimmung in den Clubs anheizte, durchlebte in den vergangenen Jahren einige Sinneswandel. Der Rapper schrieb schon immer sozialkritische Texte, diese hatten oft autobiografischen Charakter. Auch die Drogen begleiteten ihn auf seinem Weg nach oben und brachten ihn im vergangenen Jahr zu Fall.

2006 rappte er: «Scheiss auf Mathe in der Schule, wir studieren die Drogenkurse. Ich weiss, wie man sich fühlt, wenn man keine Wohnung hat. Auf der Strasse, ohne Dach. Ihr habt mich so gemacht.» Kritik an vorherrschenden Machtstrukturen übte Sido schon früh.

Von Selbstreflexion und der Fähigkeit, Vulnerabilität zu zeigen, war er damals noch meilenweit entfernt. Von Album zu Album tastete er sich näher an die grosse Kunst des Schwäche-Zeigens ran. Während er 2006 noch «Unnahbar, abgehoben wie die NASA» war, ist der Paul Würdig von 2022 ein sympathischer Mann mit Bart, der nahbar wirkt.

Der lange Kampf mit dem Alter Ego

Wer das Schaffen des Berliners genau analysiert, merkt, dass die Kluft zwischen Sido und Paul Würdig keine Entwicklung ist, die erst im vergangenen Jahr stattfand. Die Kluft entstand wohl bereits während seines kometenhaften Aufstiegs.

Bildnummer: 50619003 Datum: 02.12.2004 Copyright: imago/T-F-Foto
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Während der ersten Jahre seiner Karriere trat Sido noch anonym und mit einer Totenkopf-Maske auf.bild: imago

Doch wahrscheinlich verlangte die Popkultur der 00er- und frühen 10er-Jahre, dass Sido und nicht Paul Würdig sich beweist. Für Rapper, die ihre Vulnerabilität offen leben, war damals noch kein Platz. Das Publikum wollte besoffen an Konzerten den «Ar***fi**song» jaulen.

Songs wie «Alle Frauen sind Sch***pen» sind 2002 schon grenzüberschreitend und sexistisch gewesen. Das steht ausser Frage. Und doch waren sie massentauglich. Möglicherweise konnte nur Sido in den auf Skandale fokussierten 00er-Jahren Karriere machen. Die Welt war damals nicht bereit für den sensiblen Paul Würdig.

Dank der Arbeit verschiedenster Menschen, seien es Aktivistinnen und Aktivisten, Forschende oder Politikerinnen und Politiker, konnte sich die Gesellschaft weiterentwickeln. So konnte ein Grossteil der Bevölkerung sich, zumindest teilweise, von den toxischen Männlichkeitsidealen und dem offen gelebten Sexismus abwenden.

So ist im Jahr 2022 auch Platz für einen Paul Würdig, der trotz Verletzlichkeit erfolgreich ist. Nicht nur für den kontroversen Sido, dessen Name anfänglich für das Akronym von «Schei**e in dein Ohr» und «super-intelligentes Drogenopfer» stand.

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58 Kommentare
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maxx6000
12.12.2022 20:36registriert April 2020
Naja, ob sich die Gesellschaft tatsächlich weiterentwickelt hat mag ich bezweifeln...die "neue" Generation von Deutschrappern steht dem alten Sido in nichts nahe was sexistische Texte und toxische Männlichkeit angeht...aber scjön zu sehen dass sich immerhin Sido entwickelt hat
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baBIELon
12.12.2022 20:53registriert August 2016
Sido oder Paul ist ein Spiegel oder Sprachrohr seiner Generation - vieleicht sogar des Menschen allgemein! Ich selbst kann den Wandel bei mir wahrnehmen! Vom pubertierenden sich zu beweisenden halbstarken, zum selbstbewussten auch mal verletzlichen Mann! Das ist die Entwicklung eines jungen Menschen welcher seinen Platz in dieser Welt endlich gefunden hat. Wieviele solcher Stories ohne Reichweite gibt es?
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AGWLF
12.12.2022 20:42registriert Oktober 2021
Ich glaube Paul Würdig wollte nie der Ar***fi**typ sein , was ich jedoch glaube ist das er sein lyrisches können dazu verwendet hat um aus diesem Ar***fi** Milieu zu entkommen was im auch gelungen ist. Dieses Milieu steckt aber nach wie vor teilweise zumindest in ihm daher auch diese Drogenexzesse. Oder wie es Snoop Dog einmal treffend sagte; ''You can take your boy out the hood but you can't take the hood out the homie''
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