Bahnbrechend sind die Themen, die Sido, auch bekannt als Paul Würdig, in seinem neuen Album «PAUL» anspricht, nicht. Sucht, Entzug, Scheidung und Selbstreflexion sind scheinbar immer prävalente Themen in der Musikindustrie. Und doch hatte ich Tränen in den Augen, als ich das Album zum ersten Mal gehört habe.
Bevor Sido sein neuntes Studioalbum releaste, gab er Aria Nejati, dem Head of Hip-Hop für Apple Music in Deutschland, Österreich und der Schweiz, ein Interview. Clevere Werbung für das neue Album. Aber das Interview ist viel mehr als nur ein PR-Stunt. Sido ist darin schonungslos ehrlich mit sich selbst. Er schreckt nicht davor zurück, sich erfrischend vulnerabel zu zeigen – und das vor einem Millionenpublikum.
Für Sido war das Schreiben der Songs und das Produzieren des in sich sehr stimmigen Albums der letzte Schritt in seinem Kampf gegen seine Kokainsucht.
Er verarbeitete in dem Album auch die Scheidung von seiner Ex-Frau Charlotte Würdig und die damit einhergehende Angst, seinen Kindern als Vater nicht gerecht zu werden. Sido sagt im Interview: «Für mich ist [mit dem Erscheinen des Albums] eine Phase im Leben abgeschlossen. Eine dunkle Phase in meinem Leben ist damit abgeschlossen.»
Das Album beginnt mit einem etwas plumpen Intro: der Audioaufnahme einer Vorstellungsrunde in einer Therapiegruppe. Das Intro endet damit, dass Paul sich der Therapiegruppe vorstellt – das macht er dann auch in den insgesamt 13 darauffolgenden Songs.
Die Beats der Songs sind catchy, schon fast heiter, nicht düster. Die Texte dazu sind aber bitterernst.
In «Versager» beschreibt Sido die schlechte, eigentlich nicht existierende Beziehung zu seinem Vater. Im darauffolgenden Song «Rollender Stein» entschuldigt er sich bei seinen Kindern für die Scheidung von ihrer Mutter. Er reflektiert sein Dasein als Vater und thematisiert seine Angst, seine Kinder allein zu lassen und somit genauso zu sein wie sein eigener Vater.
In «Sterne» gib der aus Berlin stammende Rapper tiefe Einblicke in sein Privatleben: «Sex, Drugs and Rock 'n' Roll – Scheidungsgrund. Schei**egal, ich bin aus Stein, nein ich wein’ nicht drum. Doch wenn ich alleine bin, dann wein’ ich drum».
Der exzessive Drogenmissbrauch und das auf die Scheidung folgende promiskuitive Verhalten sind weitere wichtige Leitmotive in «PAUL». Beide Themen wurden in der Hip-Hop-Szene lange glorifiziert. Der 42-Jährige bricht aber mit dieser Tradition und zeigt dem Hörer in «Gar nicht mal so glücklich», wie dieses glamouröse Leben wirklich ist: «Manchmal hab' ich gar nicht erst geschlafen für drei Tage, denn mal wieder war ich drauf. Meine schlechten Taten und die Gagen und der Wagen, dafür kriegen wir Applaus. Doch die Suiten und die Miezen und die Liebe macht mich gar nicht mal so glücklich, wie du glaubst.»
Sido, der 2006 noch ein «Schlechtes Vorbild» war und 2014 mit Liedern wie «Strip für mich» die Stimmung in den Clubs anheizte, durchlebte in den vergangenen Jahren einige Sinneswandel. Der Rapper schrieb schon immer sozialkritische Texte, diese hatten oft autobiografischen Charakter. Auch die Drogen begleiteten ihn auf seinem Weg nach oben und brachten ihn im vergangenen Jahr zu Fall.
2006 rappte er: «Scheiss auf Mathe in der Schule, wir studieren die Drogenkurse. Ich weiss, wie man sich fühlt, wenn man keine Wohnung hat. Auf der Strasse, ohne Dach. Ihr habt mich so gemacht.» Kritik an vorherrschenden Machtstrukturen übte Sido schon früh.
Von Selbstreflexion und der Fähigkeit, Vulnerabilität zu zeigen, war er damals noch meilenweit entfernt. Von Album zu Album tastete er sich näher an die grosse Kunst des Schwäche-Zeigens ran. Während er 2006 noch «Unnahbar, abgehoben wie die NASA» war, ist der Paul Würdig von 2022 ein sympathischer Mann mit Bart, der nahbar wirkt.
Wer das Schaffen des Berliners genau analysiert, merkt, dass die Kluft zwischen Sido und Paul Würdig keine Entwicklung ist, die erst im vergangenen Jahr stattfand. Die Kluft entstand wohl bereits während seines kometenhaften Aufstiegs.
Doch wahrscheinlich verlangte die Popkultur der 00er- und frühen 10er-Jahre, dass Sido und nicht Paul Würdig sich beweist. Für Rapper, die ihre Vulnerabilität offen leben, war damals noch kein Platz. Das Publikum wollte besoffen an Konzerten den «Ar***fi**song» jaulen.
Songs wie «Alle Frauen sind Sch***pen» sind 2002 schon grenzüberschreitend und sexistisch gewesen. Das steht ausser Frage. Und doch waren sie massentauglich. Möglicherweise konnte nur Sido in den auf Skandale fokussierten 00er-Jahren Karriere machen. Die Welt war damals nicht bereit für den sensiblen Paul Würdig.
Dank der Arbeit verschiedenster Menschen, seien es Aktivistinnen und Aktivisten, Forschende oder Politikerinnen und Politiker, konnte sich die Gesellschaft weiterentwickeln. So konnte ein Grossteil der Bevölkerung sich, zumindest teilweise, von den toxischen Männlichkeitsidealen und dem offen gelebten Sexismus abwenden.
So ist im Jahr 2022 auch Platz für einen Paul Würdig, der trotz Verletzlichkeit erfolgreich ist. Nicht nur für den kontroversen Sido, dessen Name anfänglich für das Akronym von «Schei**e in dein Ohr» und «super-intelligentes Drogenopfer» stand.