Haarspalter
Das ist eben der Unterschied zur Demokratie.
«Schockiert» sei er, zitierte das deutsche Nachrichtenmedium n-tv kürzlich Lew Gudkow. Gudkow ist Direktor von Lewada - dem einzigen unabhängigen Meinungsforschungsinstitut in Russland.
Gemäss einer aktuellen Meinungsumfrage des Instituts unter Russinnen und Russen liegt die Zustimmung für Putins Ukraine-Krieg nach wie vor bei über 70 Prozent. Der Anteil der befragten Personen, welche sich klar gegen den Krieg äusserten, lag bei rund 10 Prozent.
Er habe eine «viel schärfere und negativere öffentliche Reaktion» auf den Krieg erwartet, sagte Gudkow. Stattdessen hätten sich die Menschen als «noch verkommener, noch unterwürfiger und passiver» erwiesen.
Der russische Politaktivist Aleksei Miniailo dagegen rät zu mehr Vorsicht bei der Beurteilung der öffentlichen Meinung zum Krieg. Unter dem Titel «Chroniki» (zu deutsch Chroniken) führt er gemeinsam mit Soziologen eigene Umfragen in der Bevölkerung durch. Während Gudkow von über 70 Prozent Befürwortung für Putins Krieg ausgeht, spricht Miniailo nur von knapp 40 Prozent.
Wie kommt eine so unterschiedliche Beurteilung zustande? Gemäss Miniailo sagen Befragte in Russland wegen Sicherheitsbedenken oft nicht direkt, was ihre Haltung ist. Frage man ganz offen, ob jemand die «militärische Spezialoperation» unterstütze, laute die Antwort häufig ja, sagte der Aktivist dem russischsprachigen Exilmedium Meduza. Bohre man jedoch ein wenig nach, dann sehe es häufig differenzierter aus.
So hätten auch in seiner letzten Umfrage vom Februar zunächst knapp 60 Prozent angegeben, den Krieg zu unterstützen. Der Wert schwankt regelmässig, je nachdem, wie sich die Geschehnisse entwickeln.
Unter dem Einfluss wirtschaftlicher Probleme fiel der Wert von 64 Prozent im vergangenen Mai auf 55 Prozent im Juli. Zu einer sinkenden Zustimmung führen auch fehlende Erfolge an der Front oder die Erwartung, dass der Krieg noch lange andauern dürfte. Zu Beginn des Krieges gingen sowohl in Russland als auch im Westen viele Beobachter davon aus, dass die Ukraine in einem Krieg gegen Russland chancenlos sei.
Einen noch grösseren Einfluss auf die Zustimmung zum Krieg hatte die Verkündung der Teilmobilisierung durch Präsident Putin Anfang September. Unmittelbar danach sank die Zustimmung auf 52 Prozent.
Um herauszufinden, wer die Unterstützung nur angibt, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen, hat die Studie den Befragten in einem zweiten Schritt Zusatzfragen gestellt. Etwa, ob sie Personen, die dem Krieg nicht zustimmen, moralisch verurteilen oder gar dafür wären, sie strafrechtlich zu verfolgen.
Das bereinigte Ergebnis derjenigen, die den Krieg unterstützen, liege demnach viel tiefer. 10 Prozent lehnen den Krieg offen ab und knapp 40 Prozent gehören zum «harten Kern» der Befürworter. Die übrigen 50 Prozent unterstützen den Krieg nur vordergründig oder geben keine Antwort.
Bei der Betrachtung dieser rund 50 Prozent darf nicht vergessen werden, dass es in Russland nicht als neutral angesehen wird, wenn man dem Krieg nicht aktiv zustimmt. Eine öffentliche Ablehnung des Krieges kann sogar dazu führen, dass man strafrechtlich verfolgt wird, wie zahlreiche Beispiele belegen.
Entsprechend ist es diese überzeugte Minderheit, welche die öffentliche Debatte in Russland dominiert und dadurch im Ausland den Eindruck erweckt, es handle sich um eine Mehrheit. Die «Chroniki» zeigen, dass die Situation in Russland komplizierter ist, als es die Umfrageergebnisse des Lewada-Instituts vorzugeben scheinen.
Auffällig ist ausserdem, wie hoch der Anteil der Jungen (18–34 Jahre) innerhalb der Gruppe der Unentschlossenen ist. Er soll sich seit Kriegsbeginn um knapp 50 Prozent bewegen. Und: Keine andere Altersgruppe lehnt den Krieg so stark ab wie diese. Sie ist es, welche das Land seit Kriegsbeginn in Massen verlassen hat – und dies weiterhin tut. (aargauerzeitung.ch)