Ruhig war es nie vor dem Sturm. Seit der Besetzung der östlichen Hälfte durch pro-russische Separatisten 2014 schwelte der Konflikt im Donbass. Damals, als die Separatisten mit Schützenhilfe aus Moskau zum ersten Mal versuchten, die ostukrainische Region einzunehmen, verloren fast 15'000 Menschen ihr Leben. Beim zweiten Eroberungsversuch, der in der Nacht auf Dienstag losgegangen ist, könnten es deutlich mehr werden.
«Ganz egal, wie viele russische Truppen jetzt kommen: Wir werden kämpfen», sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einer Ansprache. Währendessen nahmen Wladimir Putins Truppen laut russischen Quellen gestern mehr als 60 Ziele im Donbass ins Visier.
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Das Ziel der Russen ist klar: Nach dem gescheiterten Umsturzversuch in Kiew will Putin jetzt wenigstens den gesamten Donbass einnehmen und damit sein Versagen von 2014 wettmachen. Die Kontrolle über die einstmals wichtige Kohle-Region möchte er seinem Volk – so glauben westliche Beobachter – am 9. Mai anlässlich der Moskauer Militärparade zur Feier des Weltkriegsendes als Sieg der «Spezialoperation» verkaufen.
Um das Ziel zu erreichen, setzt Putin auf zwei neue Massnahmen: Erstens hat er vor Kurzem den General Alexander Dwornikow mit dem Oberkommando über die russischen Truppen in der Ukraine betraut.
2015 und 2016 liess Dwornikow einst Aleppo und andere syrische Städte ohne jegliche Rücksicht auf zivile Opfer kaputtbomben. Ähnliches plant er – wie die Attacke auf den Bahnhof in Kramatorsk am 8. April mit mehr als 50 Toten zeigte – auch im Kampf um die Gebiete der Ostukraine.
Zweitens schickt Putin noch einmal deutlich mehr Männer und Waffen aufs Schlachtfeld. Inzwischen kämpfen im Donbass und im Südosten der Ukraine laut dem US-Verteidigungsministerium 76 der total 170 «Battalion Tactical Groups» der russischen Streitkräfte. Eine solche Gruppe besteht aus rund 800 Kämpfern und Logistik-Experten, dutzenden gepanzerten Fahrzeugen und schwerer Artillerie.
Strategisch hat Putin nur zwei Optionen, um seine Ziele im Donbass zu erreichen, schreibt der australische Ex-General Mick Ryan auf Twitter:
Ex-General Ryan erachtete die zweite Option als die wahrscheinlichere.
Geritzt ist die Sache im ukrainischen Osten damit aber noch lange nicht. Ein grosser Unsicherheitsfaktor für Putins Planung ist die Situation in Mariupol. Noch immer harren rund 2500 ukrainische Kämpfer und 1000 Zivilisten im Stahlwerk Azovstal aus und leisten Widerstand. Die andauernde Schlacht um Mariupol bindet bedeutende russische Kräfte.
Sollte die Russen nach 2014 auch die zweite Schlacht um den Donbass verlieren, steigt laut Ryan die Gefahr für einen russischen Nuklearschlag – aus purem Frust.
Russland hat schätzungsweise 2000 sogenannte taktische Nuklearwaffen, deren Wirkung zwar verheerend, aber deutlich kleiner wäre als etwa jene der US-Atombomben im Zweiten Weltkrieg. Wie der Westen auf einen taktischen Nuklearschlag Moskaus reagieren würde, hat ein Team der amerikanischen Princeton-Universität simuliert.
Laut den Princeton-Experten könnte ein entsprechender Angriff schnell zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen Moskau und der Nato führen, der binnen Stunden mehr als 30 Millionen Tote und knapp 60 Millionen Verletzte verursachen würde. Ein Horrorszenario, das mit dem Eintritt des Ukraine-Kriegs in die nächste Phase nicht mehr ganz so abwegig scheint, wie noch vor zwei Monaten. (aargauerzeitung.ch)