Im Osten der Ukraine sollen die russischen Truppen ukrainischen Angaben zufolge mit dem erwarteten Grossangriff begonnen haben. Der Generalstab der ukrainischen Armee berichtete am Montagabend von «Anzeichen des Beginns einer Offensive».
Während sich die russische Armee bis jetzt noch nicht zu diesen Aussagen geäussert hat, bekräftigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Post des Generalstabs der ukrainischen Armee in einer Rede, die über Telegram verbreitet wurde: Kiew könne «nun bestätigen, dass die russischen Truppen den Kampf um den Donbas begonnen haben, auf den sie sich seit Langem vorbereiten».
Auch die US-Regierung sprach davon, dass Russland seine Truppen im Osten und Süden der Ukraine deutlich verstärke, wie der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby, mitteilte.
Darum geht es bei der Grossoffensive auf den Donbas:
Der Twitter-Account «Ukraine War Mapper» visualisiert den momentanen Stand der russischen Gebietsgewinne in der Ukraine seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022. Dabei ist zu erkennen, dass sich die russische Armee mittlerweile fast vollständig aus der Region um die Hauptstadt Kiew zurückgezogen hat.
Von den Städten Donezk und Luhansk sowie von der Halbinsel Krim aus konnten zwar Gebietsgewinne auf ukrainischem Territorium gemacht werden, aber gerade die strategisch wichtige Schwarzmeer-Hafenstadt Mariupol sowie Teile des Donbas werden zurzeit weiterhin von der ukrainischen Armee gehalten.
Einen Monat nach Beginn des Krieges behauptet Russland, 93 Prozent der Oblast Luhansk sowie 54 Prozent von Donezk unter seine Kontrolle gebracht zu haben.
Der sogenannte Donbas erstreckt sich von Mariupol im Süden bis zur Nordgrenze und ist auf dem Bild mit einer rot-gestrichelten Linie abgegrenzt.
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Mit einer Grossoffensive auf den Osten der Ukraine beziehungsweise den gesamten Donbas wird bereits seit Tagen gerechnet, da Putins Armee sich dorthin verlagert hat.
Erwartet wird in den nächsten Tagen ein taktischer Vorstoss von etwa 20 Bataillons, die aktuell im Gebiet um die Stadt Sewerodonezk stationiert sind. Der in militärstrategischen Belangen immer sehr gut informierte Twitter-Account «Jomini of the West» vermutet, dass die russischen Streitkräfte in erster Priorität wohl den Angriff fortsetzten, um Sewerodnetsk die etwas nördlicher gelegene Stadt Rubischne sowie die etwas südlicher gelegene Stadt Popasna zu erobern.
Zudem werde in den nächsten 24 Stunden womöglich versucht, auf die Stadt Slowjansk vorzurücken. Ebenfalls werde weiter versucht, Mariupol vollständig einzunehmen.
Die Einnahme all dieser Städte wäre für Russland strategisch wichtig, weil so ein Zusammenführen mit den Truppenteilen, die südöstlich von Izyum vorrücken, möglich würde.
Benno Zogg vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich prognostiziert gegenüber SRF, dass die erwarteten Kämpfe «wahrscheinlich wochenlang sehr, sehr blutig werden und kaum schnelle Vorstösse für Russland mit sich bringen.»
Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, dass die ukrainische Seite wiederholt verkündet, weiterhin vehement gegen eine russische Übernahme zu kämpfen. So versicherte zum Beispiel Selenskyj in seiner gestrigen Rede:
Und auch der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andryj Yermak, bekräftigte auf Telegram:
Es ist zu bedenken: Selbst wenn Putins Armee den ganzen Donbas erobern könnte, wäre es anspruchsvoll, dieses grosse Gebiet auch langfristig zu halten.
Die humanitäre Lage im Donbas soll sich rapide verschlechtern.
Iewhen Tkachow, der ein karitatives Altersheim in der Stadt Chasiv Yar im Donbas leitet, verfolgte die Kämpfe in der Ostukraine seit 2014 besorgt. Doch die kommenden Tage bereiten ihm Kopfzerbrechen: «Ich weiss, dass es kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung und keine Medikamente geben wird. Dieser Ort wird in wenigen Tagen zu einem Massengrab», sagte Tkachov gegenüber dem Guardian. Darum versuche er die Bewohner des Altersheimes möglichst schnell in den Westen der Ukraine zu evakuieren.
Besonders prekär soll die Lage in der seit Wochen schwer umkämpften Stadt Mariupol am Schwarzen Meer sein. Die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk warf am Dienstag der russischen Armee vor, trotz mehrfachem Bitten keinen humanitären Korridor für Zivilisten bereitzustellen.
Für die Evakuierung von Zivilisten sind die Zuglinien ein wichtiger Faktor. Da der Schienentransport aber auch der effektivste Transportweg für Truppen und schwere Waffen ist, würde die Kontrolle über Teile des Schienennetzes den russischen Streitkräften ermöglichen, ihre Truppen und ihren Nachschub effizienter zu verlegen – sowie die ukrainische Armee zu behindern. Dies ist wohl ein Grund dafür, dass vermehrt Angriffe auf die Infrastruktur von Zügen gemeldet werden.
Für die Zivilisten bedeutet das aber, dass ein sicherer Evakuierungstransport immer unwahrscheinlicher wird: Viele Zugverbindungen für Zivilisten im Donbas sind mittlerweile unterbrochen. Und auch vom Knotenpunkt Kramatorsk aus fahren keine Züge mehr, seit am 8. April bei einem Raketenangriff 57 Menschen getötet wurden, als sie darauf warteten, einen Zug zu besteigen.
Im Donbas schwelt bereits seit 2014 ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine: Separatisten, die sich kulturell und sprachlich Russland zugehörig fühlen, wollten diesen östlichen Zipfel des ukrainischen Territoriums von der Ukraine ablösen.
Der russische Staatschef Wladimir Putin hat seit 2014 wiederholt die unbegründete Anschuldigung erhoben, dass die Ukraine im Osten des Landes einen «Völkermord» an der russischsprachigen Bevölkerung begangen habe. Auch an einer Pressekonferenz zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz nur knapp eine Woche vor Beginn des Krieges wiederholte er diese Behauptung vor versammelter Presse und gegenüber Scholz.
Als der Krieg am 24. Februar begann, waren fast zwei Drittel der östlichen Regionen in ukrainischer Hand. Der Rest wurde damals von russischen Stellvertretern verwaltet, die seit 2014 Kleinstaaten gebildet hatten, die von Moskau unterstützt wurden. Kurz vor dem Krieg anerkannte Putin die Seperatistengebiete Volksrepublik Donezk (DNR) sowie die Volksrepublik Luhansk (LNR) als unabhängige Gebiete.
Sollte es Russland gelingen, den gesamten Donbas zu erobern, könnte Putin dies als eine Art Erfolg verbuchen. Der nächste Schritt wäre dann die Annexion des Donbas – wie bei der Krim, die mittels eines Referendums im Jahr 2014 von Russland annektiert wurde. Die Seperatistenführer in Luhansk sprachen bereits von einem Referendum in «naher Zukunft», obwohl die Idee einer Scheinabstimmung in einem Kriegsgebiet absurd ist.
Ein besonderer Erfolg wäre es für Putin, wenn es seiner Armee gelänge, den Donbas vor dem 9. Mai militärisch zu sichern. Denn der 9. Mai wird in Russland als «Tag des Sieges» gefeiert.
Erinnert wird am 9. Mai jeweils an die Niederlage Nazideutschlands im Jahr 1945. Könnte Putin am «Tag des Sieges», die Einnahme des Donbas verkünden, würde der Grossangriff auf den Donbas im historischen Gedächtnis der russischen Bevölkerung als einen der grössten Siege seit dem Zweiten Weltkrieg verankert.
(yam)