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Angriff auf die Ostukraine – das musst du wissen

Angriff auf die Ostukraine – das musst du wissen

Die russischen Truppen sollen mit dem erwarteten Grossangriff auf den Osten der Ukraine begonnen haben. Was in den nächsten Tagen zu erwarten ist.
19.04.2022, 14:4219.04.2022, 15:44
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Im Osten der Ukraine sollen die russischen Truppen ukrainischen Angaben zufolge mit dem erwarteten Grossangriff begonnen haben. Der Generalstab der ukrainischen Armee berichtete am Montagabend von «Anzeichen des Beginns einer Offensive».

Während sich die russische Armee bis jetzt noch nicht zu diesen Aussagen geäussert hat, bekräftigt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Post des Generalstabs der ukrainischen Armee in einer Rede, die über Telegram verbreitet wurde: Kiew könne «nun bestätigen, dass die russischen Truppen den Kampf um den Donbas begonnen haben, auf den sie sich seit Langem vorbereiten».

Video: watson

Auch die US-Regierung sprach davon, dass Russland seine Truppen im Osten und Süden der Ukraine deutlich verstärke, wie der Sprecher des Verteidigungsministeriums, John Kirby, mitteilte.

Darum geht es bei der Grossoffensive auf den Donbas:

Die Ausgangslage Stand Dienstag

Der Twitter-Account «Ukraine War Mapper» visualisiert den momentanen Stand der russischen Gebietsgewinne in der Ukraine seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. Februar 2022. Dabei ist zu erkennen, dass sich die russische Armee mittlerweile fast vollständig aus der Region um die Hauptstadt Kiew zurückgezogen hat.

Von den Städten Donezk und Luhansk sowie von der Halbinsel Krim aus konnten zwar Gebietsgewinne auf ukrainischem Territorium gemacht werden, aber gerade die strategisch wichtige Schwarzmeer-Hafenstadt Mariupol sowie Teile des Donbas werden zurzeit weiterhin von der ukrainischen Armee gehalten.

Ukraine Karte Donbass Stand 19.04.2022 Morgen
Der Donbas ist ein Steinkohle- und Industriegebiet im Osten der Ukraine sowie im angrenzenden Russland. Innerhalb der Ukraine gehören die Oblast Donezk sowie die Oblast Luhansk zum Donbas, auf russischer Seite ist es der westliche Teil der Oblast Rostow. Bild: Screenshot Twitter-Account @War_Mapper

Einen Monat nach Beginn des Krieges behauptet Russland, 93 Prozent der Oblast Luhansk sowie 54 Prozent von Donezk unter seine Kontrolle gebracht zu haben.

Der sogenannte Donbas erstreckt sich von Mariupol im Süden bis zur Nordgrenze und ist auf dem Bild mit einer rot-gestrichelten Linie abgegrenzt.

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Der Grossangriff – was in den nächsten Tagen passieren könnte

Mit einer Grossoffensive auf den Osten der Ukraine beziehungsweise den gesamten Donbas wird bereits seit Tagen gerechnet, da Putins Armee sich dorthin verlagert hat.

Erwartet wird in den nächsten Tagen ein taktischer Vorstoss von etwa 20 Bataillons, die aktuell im Gebiet um die Stadt Sewerodonezk stationiert sind. Der in militärstrategischen Belangen immer sehr gut informierte Twitter-Account «Jomini of the West» vermutet, dass die russischen Streitkräfte in erster Priorität wohl den Angriff fortsetzten, um Sewerodnetsk die etwas nördlicher gelegene Stadt Rubischne sowie die etwas südlicher gelegene Stadt Popasna zu erobern.

Zudem werde in den nächsten 24 Stunden womöglich versucht, auf die Stadt Slowjansk vorzurücken. Ebenfalls werde weiter versucht, Mariupol vollständig einzunehmen.

Vorstoss Russland Donbas
Bild: Screenshot Twitter-Account @War_Mapper

Die Einnahme all dieser Städte wäre für Russland strategisch wichtig, weil so ein Zusammenführen mit den Truppenteilen, die südöstlich von Izyum vorrücken, möglich würde.

Benno Zogg vom Zentrum für Sicherheitsstudien an der ETH Zürich prognostiziert gegenüber SRF, dass die erwarteten Kämpfe «wahrscheinlich wochenlang sehr, sehr blutig werden und kaum schnelle Vorstösse für Russland mit sich bringen.»

Diese Einschätzung wird dadurch gestützt, dass die ukrainische Seite wiederholt verkündet, weiterhin vehement gegen eine russische Übernahme zu kämpfen. So versicherte zum Beispiel Selenskyj in seiner gestrigen Rede:

«Ganz gleich, wie viele russische Truppen in den Osten der Ukraine getrieben werden: Wir werden kämpfen.»

Und auch der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andryj Yermak, bekräftigte auf Telegram:

«Wir werden uns verteidigen. Wir werden kämpfen. Wir werden nichts Ukrainisches aufgeben, und wir wollen auch nichts Fremdes.»

Es ist zu bedenken: Selbst wenn Putins Armee den ganzen Donbas erobern könnte, wäre es anspruchsvoll, dieses grosse Gebiet auch langfristig zu halten.

Die Zivilbevölkerung

Die humanitäre Lage im Donbas soll sich rapide verschlechtern.

Iewhen Tkachow, der ein karitatives Altersheim in der Stadt Chasiv Yar im Donbas leitet, verfolgte die Kämpfe in der Ostukraine seit 2014 besorgt. Doch die kommenden Tage bereiten ihm Kopfzerbrechen: «Ich weiss, dass es kein Wasser, keinen Strom, keine Heizung und keine Medikamente geben wird. Dieser Ort wird in wenigen Tagen zu einem Massengrab», sagte Tkachov gegenüber dem Guardian. Darum versuche er die Bewohner des Altersheimes möglichst schnell in den Westen der Ukraine zu evakuieren.

Elderly people are evacuated from a hospice in Chasiv Yar city, Donetsk district, Ukraine, Monday, April 18, 2022. At least 35 men and women, some in wheelchairs and most of them with mobility issues, ...
Ein Bewohner des Heimes in Chasiv Yar wird von Helfern evakuiert, 18. April 2022.Bild: keystone

Besonders prekär soll die Lage in der seit Wochen schwer umkämpften Stadt Mariupol am Schwarzen Meer sein. Die ukrainische Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk warf am Dienstag der russischen Armee vor, trotz mehrfachem Bitten keinen humanitären Korridor für Zivilisten bereitzustellen.

A local resident looks at a damaged during a heavy fighting apartment building near the Illich Iron &amp; Steel Works Metallurgical Plant, the second largest metallurgical enterprise in Ukraine, in an ...
Eine Frau schaut auf ein zerstörtes Wohnhaus in Mariupol, 16. April 2022.Bild: keystone

Für die Evakuierung von Zivilisten sind die Zuglinien ein wichtiger Faktor. Da der Schienentransport aber auch der effektivste Transportweg für Truppen und schwere Waffen ist, würde die Kontrolle über Teile des Schienennetzes den russischen Streitkräften ermöglichen, ihre Truppen und ihren Nachschub effizienter zu verlegen – sowie die ukrainische Armee zu behindern. Dies ist wohl ein Grund dafür, dass vermehrt Angriffe auf die Infrastruktur von Zügen gemeldet werden.

Für die Zivilisten bedeutet das aber, dass ein sicherer Evakuierungstransport immer unwahrscheinlicher wird: Viele Zugverbindungen für Zivilisten im Donbas sind mittlerweile unterbrochen. Und auch vom Knotenpunkt Kramatorsk aus fahren keine Züge mehr, seit am 8. April bei einem Raketenangriff 57 Menschen getötet wurden, als sie darauf warteten, einen Zug zu besteigen.

epa09878018 A handout picture made available by the Donetsk Regional State Administration shows emergency services working at the scene after a missile strike hit the railway station in Kramatorsk, Do ...
Nach dem Angriff auf den Bahnhof in Kramatorsk, 8. April 2022.Bild: keystone

Warum die russische Armee den Donbas einnehmen will

Im Donbas schwelt bereits seit 2014 ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine: Separatisten, die sich kulturell und sprachlich Russland zugehörig fühlen, wollten diesen östlichen Zipfel des ukrainischen Territoriums von der Ukraine ablösen.

Der russische Staatschef Wladimir Putin hat seit 2014 wiederholt die unbegründete Anschuldigung erhoben, dass die Ukraine im Osten des Landes einen «Völkermord» an der russischsprachigen Bevölkerung begangen habe. Auch an einer Pressekonferenz zusammen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz nur knapp eine Woche vor Beginn des Krieges wiederholte er diese Behauptung vor versammelter Presse und gegenüber Scholz.

Als der Krieg am 24. Februar begann, waren fast zwei Drittel der östlichen Regionen in ukrainischer Hand. Der Rest wurde damals von russischen Stellvertretern verwaltet, die seit 2014 Kleinstaaten gebildet hatten, die von Moskau unterstützt wurden. Kurz vor dem Krieg anerkannte Putin die Seperatistengebiete Volksrepublik Donezk (DNR) sowie die Volksrepublik Luhansk (LNR) als unabhängige Gebiete.

Sollte es Russland gelingen, den gesamten Donbas zu erobern, könnte Putin dies als eine Art Erfolg verbuchen. Der nächste Schritt wäre dann die Annexion des Donbas – wie bei der Krim, die mittels eines Referendums im Jahr 2014 von Russland annektiert wurde. Die Seperatistenführer in Luhansk sprachen bereits von einem Referendum in «naher Zukunft», obwohl die Idee einer Scheinabstimmung in einem Kriegsgebiet absurd ist.

Ein besonderer Erfolg wäre es für Putin, wenn es seiner Armee gelänge, den Donbas vor dem 9. Mai militärisch zu sichern. Denn der 9. Mai wird in Russland als «Tag des Sieges» gefeiert.

Erinnert wird am 9. Mai jeweils an die Niederlage Nazideutschlands im Jahr 1945. Könnte Putin am «Tag des Sieges», die Einnahme des Donbas verkünden, würde der Grossangriff auf den Donbas im historischen Gedächtnis der russischen Bevölkerung als einen der grössten Siege seit dem Zweiten Weltkrieg verankert.

(yam)

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35 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Rivka
19.04.2022 15:58registriert April 2021
Ich frage mich was die Russen mit dem Land, den sie in Schutt und Asche legen, machen werden? All die Gebiete in denen sie wüten sind/werden dem Erdboden gleich gemacht. Irgendein pro-russischer Typ, ein Lakai Putins aus den besetzten Gebieten, sagte sie werden Mariupol wieder aufbauen. Wie das bei all den Sanktionen gehen soll, ist mir ein Rätsel. Also nochmal was zum Geier wollen die Russen mit einer Landfläche auf der sie jedes Leben zerstört haben, machen? Eigene Russen aus ihrem verkorksten Land bringen und die Leute zwingen in Ruinen zu leben?
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