Kaum je waren Abstimmungsresultate so voraussehbar wie diejenigen, die am Dienstag in den russisch besetzten Gebieten der Ukraine verkündet werden sollen. Doch was ändert sich mit einer allfälligen Annexion der ukrainischen Gebiete, in denen trotz Abstimmung Kämpfe stattfinden? Eine Übersicht über die aktuellen Ereignisse.
Die Menschen in den besetzten Gebieten Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk sollen unter der Gewalt der russischen Besatzungsmacht mit «Ja» oder «Nein» darüber abstimmen, ob die Gebiete der Russischen Föderation beitreten sollen.
Alle vier ukrainischen Regionen sind Kriegsgebiet. Dies zeigt sich auch dadurch, dass die international als «Scheinreferenden» bezeichneten Abstimmungen trotz Beschuss weitergehen. Nach Angaben der Besatzungsbehörden starben im Gebiet Cherson am Sonntag zwei Menschen in einem Hotel bei einem ukrainischen Raketenangriff.
In der Stadt Altschewsk im Gebiet Luhansk teilten die Behörden mit, dass in Bombenschutzkellern abgestimmt werden könne. In der Stadt Enerhodar im Gebiet Saporischschja musste ein Wahllokal wegen massivem Beschuss an eine andere Stelle verlegt werden, wie die russische Nachrichtenagentur Tass meldete.
Im südukrainischen Gebiet Cherson soll örtlichen Angaben nach die erforderliche Mindestbeteiligung von 50 Prozent bereits erreicht worden sein. Dort hätten mehr als die Hälfte der rund 750'000 Wahlberechtigten abgestimmt, teilte die Vorsitzende der Wahlkommission mit. Auch im benachbarten Gebiet Saporischschja soll die Beteiligung bereits bei mehr als 50 Prozent liegen.
Die russischen Wahlbehörden in den vier Gebieten geben sich zwar alle Mühe, einen nach aussen hin geordneten Ablauf zu zeigen. Trotzdem ist der Ausgang der am 23. September begonnenen «Referenden» bereits jetzt klar: Die vier besetzten Gebiete werden an Russland angeschlossen. Die Ukraine wird auf einen Schlag rund 15 Prozent ihres Staatsgebiets verlieren. Unabhängige Wahlbeobachter sind nicht zugelassen.
Twitter-Videos zeigen, wie Menschen in Enerhodar (Oblast Saporischschja) von Soldaten zur Abstimmung gezwungen werden.
Getting out the vote in Russian-occupied Zaporizhzhia. Imagine saying no to that. pic.twitter.com/BXXuHgc5P5
— Matthew Luxmoore (@mjluxmoore) September 23, 2022
Völkerrechtsexperten betonen, dass die Scheinreferenden international keinen juristischen Bestand haben und eine eklatante Völkerrechtsverletzung von Seiten Russlands darstellen.
Schon allein aufgrund des russischen Angriffskriegs seien solche Referenden völkerrechtswidrig, erklärte zum Beispiel Stefan Talmon, Inhaber des Lehrstuhls für Völkerrecht an der Universität Bonn, der ARD. Russland habe mit der Invasion der Ukraine gegen das völkerrechtliche Aggressionsverbot verstossen - eines der Grundprinzipien der Charta der Vereinten Nationen.
Weiter seien wichtige Rahmenbedingungen für eine Gültigkeit von Referenden nicht gegeben: «Die Abstimmungen müssen allgemein, gleich, ohne Ausübung von Zwang oder ohne das Anbieten von Belohnungen oder dergleichen möglich sein», so Talmon. Zudem müsse Referenden eine gewisse Zeitspanne vorausgehen, in welcher in der abstimmenden Gemeinschaft ein Diskurs geführt werden kann.
Die Mehrzahl der Staaten weltweit hatten die Scheinreferenden deshalb vorab als Verstoss gegen internationales Recht und als machtpolitisch motivierten Schritt des Kremls verurteilt. Westliche Länder und die EU bereiten ein neues, achtes Sanktionspaket gegen Russland vor. Sogar eigentlich Russland freundlich gesinnte Staaten, wie Serbien oder Kasachstan, gaben zuletzt bekannt, eine mögliche Annexion der vier Gebiete nicht anerkennen zu wollen.
Die völkerrechtswidrige Annexion könnte noch in dieser Woche abgeschlossen werden. Erwartet wird, dass Kremlchef Wladimir Putin die besetzten Gebiete schon an diesem Freitag in die Russische Föderation aufnehmen könnte.
Dies würde bedeuten, dass jegliche Verhandlungen zwischen den beiden Kriegsparteien wohl langfristig auf Eis gelegt würden. «Dies würde eine Fortsetzung der diplomatischen Verhandlungen mit dem Präsidenten der Russischen Föderation auf jeden Fall unmöglich machen», sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dem US-Sender «CBS News».
Russland forderte bei den Verhandlungen in den ersten Kriegswochen als Bedingung für einen Frieden unter anderem die Anerkennung der ukrainischen Halbinsel Krim, die Russland 2014 annektiert hatte. Es ist davon auszugehen, dass Moskau ähnliche Forderungen auch für die betroffenen Gebiete in der Ost- und Südukraine nach deren Einverleibung stellen dürfte.
Bereits seit 2014 stehen sich Bürgerinnen und Bürger der Ukraine an der Front gegenüber, da aufseiten der prorussischen Separatisten zahlreiche ukrainische Staatsbürger kämpfen. Es könnten in absehbarer Zeit aber noch viele mehr werden. So befürchtet der gewählte Bürgermeister der russisch besetzten Stadt Melitopol, Iwan Fedorow, dass Ukrainer in den besetzten Gebieten für den russischen Kriegsdienst rekrutiert werden - im Zuge der Annexion der Gebiete.
«Sie werden unsere Männer einziehen und als Kanonenfutter missbrauchen», sagte Fedorow. Laut dem Bürgermeister sei ein vergleichbares russisches Vorgehen in den Regionen Donezk und Luhansk zu beobachten. Die Männer dort hätten «keine Chance, nein zu sagen». Männer im wehrpflichtigen Alter in Cherson und Saporischschja sollen bereits Einberufungsbescheide für die kommende Woche erhalten haben.
Russlands Präsident Putin hatte nach zahlreichen Niederlagen der eigenen Armee eine Teilmobilmachung in Russland angeordnet. 300'000 Reservisten sollen nun in die russische Armee eingezogen werden.
Gerade in diesem Zusammenhang wird Putin froh darüber sein, auch Ukrainer für den Krieg rekrutieren zu können, denn die Teilmobilmachung wird von vielen Russen abgelehnt. Unlängst hatte ein Reservist in Ostsibirien auf den Leiter einer Einberufungsstelle geschossen und diesen dabei schwer verletzt. Videos auf Twitter zeigen den Zwischenfall.
Footage purporting to show a would-be conscript shooting a military recruitment officer in Irkutsk, Siberia. Earlier reports that the man died in hospital are unconfirmed. There will be a lot more of this, I suspect. #mobilization pic.twitter.com/8QX9pgAtfm
— Oliver Carroll (@olliecarroll) September 26, 2022
Auch in der russischen Teilrepublik Dagestan eskalierte die Lage. Wegen der Teilmobilmachung kommt es landesweit zu zahlreichen Protesten. Vereinzelt melden die Behörden auch Brandanschläge auf die Ämter, wo Reservisten einberufen werden. In ganz Russland sollen allein übers Wochenende 780 Menschen im Zusammenhang mit den Protesten festgenommen worden sein, wie das russische Menschenrechtsprojekt OVD-Info meldete.
Women in Yakutsk are protesting against mobilization: “Let our children live!”
— Julia Davis (@JuliaDavisNews) September 25, 2022
pic.twitter.com/Q4nIH0Ke3j
Die Voraussetzungen für weitere Kampfhandlungen in der Ukraine werden sich mit der wahrscheinlichen Annexion der vier Gebiete ändern. Putin hatte betont, dass Moskau Attacken der Ukraine auf die Gebiete dann künftig wie Angriffe auf sein eigenes Staatsgebiet behandeln und sich mit allen Mitteln verteidigen werde.
Der russische Aussenminister Sergej Lawrow sagte bei einer Rede vor den Vereinten Nationen zudem, dass die Regionen, die annektiert werden könnten, den «vollen Schutz» Moskaus geniessen würden.
Ein ukrainischer Angriff auf die annektierten Gebiete wäre aus russischer Sicht somit ein Angriff auf Russlands Staatsgebiet und würde Putin im Rahmen seiner eigenen Nukleardoktrin dazu berechtigen, Atomwaffen gegen die Ukraine einzusetzen. Zum Schutz Russlands, würde man «alle zur Verfügung stehenden Mittel nutzen», so Putin.
Weiter könnte Putin gemäss Experten, nach der Annexion Atomwaffen in den Gebieten stationieren lassen - und so den Preis für eine ukrainische Rückeroberung in die Höhe treiben.
Mit Material der Nachrichtenagentur dpa verfasst. (aargauerzeitung.ch)
Die Ukrainer werden von ihm gezwungen zu kämpfen, sonst gibt es sie bald nicht mehr. Putin wird, wenn man ihn lässt, so weitermachen. Gestern die Krim, heute Ost und Südukraine, und morgen?
Langsam jetzt alle begriffen haben.