Die zweite Phase des russischen Angriffskrieges läuft. Nachdem die Einnahme von Kiew gescheitert ist, konzentriert sich die Armee von Wladimir Putin auf den Osten der Ukraine. Während die Gefechtshandlungen laufen, sickert immer mehr durch, welche Ziele die Russen verfolgen.
Ein kürzlich abgefangenes, geheimes Dokument soll zeigen, dass hochrangige russische Offizielle in der Ukraine einen neuen Staat gründen wollen. Dies berichtet «Radio Free Europe», das von den USA gegründet wurde und in osteuropäischen, zentralasiatischen und vorderasiatischen Ländern sendet.
Das Dokument, welches die Journalisten des Senders erhalten haben, ist brisant: Demnach sollen Spitzenpolitiker der russischen Regierungspartei «Geeintes Russland» ein Manifest zur Gründung eines Staates namens «Südrussland» verfasst haben.
Die Ukraine habe 2014 ihre Existenzberechtigung verloren, heisst es im Dokument. Damals endete die Maidan-Revolution und der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch wurde abgesetzt. Im «Manifest des südrussischen Volksrats» wird das Narrativ bedient, wonach die Ukrainer von Nationalsozialisten regiert würden.
What exactly is The Manifesto Of The South Russian People's Council?https://t.co/UbrpeUdfbE
— Radio Free Europe/Radio Liberty (@RFERL) April 30, 2022
«Als Antwort auf den Terror und das totalitäre Aufzwingen der Ideologie des Nationalsozialismus und der Bandera-Anhänger durch den ehemaligen Staat Ukraine nehmen wir, in Form des Südrussischen Volksrats, die Macht in unsere eigenen Hände und gründen einen neuen Staat Südrussland», heisst es im Dokument. Die russische Propaganda zielt immer wieder auf «Bandera» ab, der ein ukrainischer Nationalistenführer im 20. Jahrhundert war.
Die russische Sprache solle «ebenso wie der ukrainische Dialekt» als Mutter- und Amtssprache anerkannt werden, heisst es im Dokument weiter. «Wir bilden diesen neuen Staat auf der Einigkeit der dreigliedrigen russischen Nation – den Ukrainern, den Belarussen und den Russen.»
Interessant ist der Punkt, dass die neue «Staatsgründung» durch ein Referendum abgesichert werden soll. Schon bei der Annexion der Krim liess Putin ein Referendum durchführen, um zu suggerieren, dass die Bevölkerung zu Russland gehören will. 97 Prozent sollen damals nach russischen Darstellungen für den Zusammenschluss gestimmt haben. In den besetzten Gebieten kann von «freien Wahlen» jedoch nicht die Rede sein.
Am 14. und 15. Mai sollen auch in den «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk Referenden abgehalten werden, wie Investigativjournalisten des Portals Meduza herausgefunden haben. Kiew warnte zunächst davor, dass auch in der besetzten Stadt Cherson ein Referendum geplant sei. Der Bürgermeister, Ihor Kolykhaiew, widersprach diesen Gerüchten jedoch. Cherson werde wohl eher in das Gebiet der Krim einverleibt.
Auch Kirill Stremoussow von der moskautreuen Verwaltung sagte, es sei kein Referendum in Cherson geplant. Man wolle das Gebiet aber dauerhaft aus dem ukrainischen Staat herauslösen. Ab dem 1. Mai werde der Rubel als Zahlungsmittel eingeführt. «Die Frage einer Rückkehr des Gebiets Cherson in die nazistische Ukraine ist ausgeschlossen», sagte Stremoussow.
Eine konkrete Angabe, welche Gebiete ein zukünftiges «Südrussland» beinhalten soll, wird im «Manifest» nicht gemacht. Ende April äusserte sich jedoch auch der russische Befehlshaber Rustam Minnekajew zu den konkreten Zielen der Ostoffensive. Russland gehe es um einen Landweg zur Schwarzmeer-Halbinsel Krim, so das hochrangige Armee-Mitglied. Doch der Landweg zur Krim scheint den Russen nicht genug.
Minnekajew sprach auch davon, die Ukraine komplett vom Meerzugang zu trennen und einen Korridor zur abtrünnigen moldauischen Provinz Transnistrien zu bilden. «Die Kontrolle über den Süden der Ukraine ist ein weiterer Weg nach Transnistrien, wo es ebenfalls Anzeichen für eine Unterdrückung der russischsprachigen Bevölkerung gibt.»