Einen «Geisteskranken» nannte der tschechische Präsident Miloš Zeman den russischen Amtskollegen, nachdem dieser seine Invasion in die Ukraine gestartet hatte. Seither eskalierte Wladimir Putin weiter, versetzte etwa Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft – und die Frage nach dem Geisteszustand des Herrschers im Kreml ist plötzlich von Bedeutung für die ganze Welt.
Ist er wirklich verrückt geworden?
Putin-Beobachter, westliche Geheimdienste und Spezialisten bei der Nato versuchen genau das zu verstehen: Warum äussert und verhält sich der russische Präsident, wie er es tut? Sie versuchen eine Strategie in Putins Handeln zu erkennen – und achten auch auf kleinste Veränderungen.
Auch Politikerinnen und Politiker, die einschätzen müssen, was da in Zukunft noch kommen könnte, drängen auf mehr Informationen. So sollen etwa hochrangige US-Beamtinnen und die Geheimdienste explizit beauftragt haben, auch Hinweise auf die geistige Verfassung des russischen Präsidenten zu sammeln, berichtet CNN.
Die Bemühungen sind also gross, doch manche warnen vor Ferndiagnosen. «Es ist so», sagte etwa Sam Greene, der Leiter des Russia Institute am Londoner King's College der «LA Times», «analytisch habe ich da die Schwierigkeit, dass ich nicht weiss, wie ich unterscheiden könnte zwischen einem Putin, der verrückt ist, und einem Putin, der die Welt einfach sehr anders versteht als ich».
Das gilt es immer zu bedenken. Und trotzdem kursieren in Äusserungen von Experten derzeit drei Erklärungsmuster. Einige sehen Putins Verhalten als Taktik, andere fürchten gesundheitliche Probleme – und Dritte, darunter der deutsche Auslandsgeheimdienst, erkennen eine immer ausgeprägtere geschichtsrevisionistische Ideologie bei Putin.
Manche gehen davon aus, dass Putin sich aus strategischen Gründen so drohend und unberechenbar verhält. Das suggerierte etwa der finnische Präsident nach einem Telefonat mit Putin, in dem dieser urplötzlich in einen anderen Ton umgeschaltet und Forderungen vorgetragen haben soll: «Das könnte auch Absicht sein – nämlich um Verwirrung zu stiften», sagte Sauli Niinistö, der durchaus als Putin-Kenner gilt, bei CNN.
Niinistö spielt damit auf eine Taktik an, die schon andere Staatschefs angewendet haben sollen: die sogenannte Madman-Theorie, die Theorie vom Verrückten. Die Idee: Einem politischen Akteur können Vorteile daraus entstehen, wenn er sich komplett unberechenbar präsentiert – etwa weil es bei einem Widersacher so grosse Furcht schürt, dass dieser einlenkt.
Dem ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon wird nachgesagt, diese Taktik im Vietnamkrieg angewendet zu haben. Auch Ex-Präsident Donald Trump soll sich daran versucht haben.
Andere vertreten die Ansicht, Putin habe mentale Probleme. Die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel soll bereits 2014 gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Obama gesagt haben, sie sei «verwirrt» von Putin. So berichteten es Insider der «New York Times». «In einer anderen Welt» befinde sich dieser, von jeder Realität weit entfernt.
Im selben Jahr veröffentlichte der Neurowissenschaftler Ian Robertson einen Aufsatz in dem Magazin «Psychology Today» mit dem Titel: «Die Gefahr, die in Wladimir Putins Gehirn lauert» .
Darin schreibt der Psychologe, der in Dublin das Trinity College Institute of Neuroscience gründete, auch: «Es besteht wenig Zweifel daran, dass sich sein Gehirn neurologisch und physisch so sehr verändert hat, dass er fest und ernsthaft glaubt, dass Russland ohne ihn dem Untergang geweiht ist.» Lange Perioden absoluter Macht hätten ihn hochgradig egozentrisch, narzisstisch und blind für Risiken gemacht.
Auch heute werden solche Warnungen wieder laut: Der britische Premier Boris Johnson sagte, dass Putin ein «irrationaler Akteur» sein könnte. Und: «Wir müssen im Moment akzeptieren, dass Wladimir Putin möglicherweise ohne jede Logik denkt, und das anstehende Desaster nicht sieht.»
So schätzt auch der ehemalige US-Offizier Herbert Raymond McMaster die Lage ein: «Ich denke nicht, dass er ein rationaler Akteur ist», so der ehemalige Sicherheitsberater Donald Trumps bei CBS. Der russische Präsident lebe in einer «Blase». Jeder in seinem Umfeld sage ihm, was er hören wolle. Das wurde der Welt veranschaulicht, als Putin in einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates seine engsten Berater regelrecht vorführte.
Auch James Clapper, der unter US-Präsident Obama die Geheimdienste koordinierte, zeigte sich im CNN-Interview besorgt. Clapper bezog sich dabei vor allem auf Putins Drohung, der Westen solle sich nicht einmischen.
Ein solcher Fall hätte Konsequenzen, wie es sie noch nie zuvor in der Geschichte gegeben habe, betonte Putin. Das wurde von Beobachtern als die Androhung einer nuklearen Eskalation interpretiert. Wenig später hat Putin tatsächlich die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt.
«Denken Sie, er hat das in sich? (...) So weit zu gehen, dass er den Knopf drückt?», fragte die Moderatorin den pensionierten General Clapper dazu. «Nun, ich persönlich denke, dass er verrückt ist», antwortete dieser. Er sei im Moment wirklich besorgt über das emotionale Gleichgewicht des russischen Präsidenten.
Auch im Geheimdienstausschuss des US-Senats fand ein Treffen zu dem Thema statt. Was genau besprochen wurde, ist nicht bekannt; die Treffen finden unter strikter Geheimhaltung statt. «Ich wünschte, ich könnte mehr darüber sagen», schrieb der republikanische Senator Marco Rubio aus Florida auf Twitter. Doch er könne sagen, dass für viele mit Putin etwas offensichtlich nicht stimme.
I wish I could share more,but for now I can say it’s pretty obvious to many that something is off with #PutinHe has always been a killer,but his problem now is different & significantIt would be a mistake to assume this Putin would react the same way he would have 5 years ago— Marco Rubio (@marcorubio) February 26, 2022
Eine deutliche Veränderung sei beim russischen Präsidenten auszumachen.
Auch für Condoleezza Rice ist der Mann nun «ein anderer Putin», das sagte sie Fox News. Rice war unter George W. Bush zunächst Sicherheitsberaterin, dann US-Aussenministerin – und oft bei Treffen mit Putin anwesend. Dabei sei dieser immer berechnend und kalt gewesen. «Launenhaft» erscheine er ihr hingegen jetzt.
Laut NBC haben US-Geheimdienste zudem belastbare Erkenntnisse darüber, dass Putin zunehmend frustriert sei und diesen Ärger vermehrt an Vertrauten auslasse. Das sei unüblich, schliesslich habe der ehemalige KGB-Offizier seine Emotionen normalerweise unter Kontrolle. Eindeutige Beweise dafür, dass Putin «mental instabil» sei, gebe es aber nicht.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat eine andere Wahrnehmung von Putin. Nachdem er ihn Anfang Februar zu persönlichen Gesprächen getroffen hatte, sagte Macron: «Der Putin von heute war anders als der Putin von vor drei Jahren.» Er sei ihm «strenger, isolierter» vorgekommen, so berichteten es Quellen aus seinem Umfeld der Nachrichtenagentur Reuters.
Am Donnerstag telefonierten die beiden Staatschefs zum dritten Mal seit Beginn der Invasion. Dabei habe sich Putin «auf neutrale und klinische Weise» ausgedrückt, verlautete es aus Paris. Und Putin habe weiterhin an seinem paranoiden Narrativ der «Entnazifizierung» der Ukraine festgehalten. «Du erzählst Lügen», habe Macron ihm daraufhin gesagt.
Dazu passt offenbar auch die Einschätzung des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND. Dieser hat laut «Tagesschau» derzeit keine Belege für eine Erkrankung Putins. Dem Bericht zufolge habe Putin sich aber in den vergangenen Monaten zurückgezogen und sich viel mit historischen und ideologischen Schriften befasst. Teilweise soll er auch selbst Texte verfasst haben.
Dazu passt Putins Kriegsankündigung aus der vergangenen Woche. In Ihr legte er fast eine Stunde lang historisch dar, warum die Ukraine kein eigenständiger Staat sei und zu Russland gehöre. In dieser Theorie ist Putin also weder ein «Madman»-Stratege noch verrückt. Er handelt stattdessen aus tiefer Überzeugung.
Auch wenn Putin also nicht verrückt ist, macht das die Lage nicht zwangsläufig einfacher.
Verwendete Quellen:
Aber letztendlich ist die Suche nach einer Erkrankung vielleicht auch nur ein Ausweg um sich nicht mit der Möglichkeit auseinandersetzen zu müssen, dass es einfach auch abgrundtief böse "Menschen" geben kann.