International
Russland

Ist Wladimir Putin verrückt? Auch andere Möglichkeiten sind beunruhigend

Ist Wladimir Putin verrückt? Auch andere Möglichkeiten sind beunruhigend

Die Ukraine angreifen? Putin ist doch nicht verrückt. So wurde oft argumentiert. Aber stimmt das noch? Aus Politik und Geheimdiensten gibt es unterschiedliche Erklärungsansätze.
05.03.2022, 18:5905.03.2022, 21:44
Lisa Becke / t-online
Mehr «International»
Ein Artikel von
t-online

Einen «Geisteskranken» nannte der tschechische Präsident Miloš Zeman den russischen Amtskollegen, nachdem dieser seine Invasion in die Ukraine gestartet hatte. Seither eskalierte Wladimir Putin weiter, versetzte etwa Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft – und die Frage nach dem Geisteszustand des Herrschers im Kreml ist plötzlich von Bedeutung für die ganze Welt.

Ist er wirklich verrückt geworden?

epa09800908 Russian President Vladimir Putin attends a ceremony of raising the national flag on the 'Marshal Rokossovsky' ferry in northern Russia, via a video conference at the Novo-Ogaryov ...
Wladimir Putin: Einsichten in das Denken des Herrschers im Kreml bekommen neue RelevanzBild: keystone

Putin-Beobachter, westliche Geheimdienste und Spezialisten bei der Nato versuchen genau das zu verstehen: Warum äussert und verhält sich der russische Präsident, wie er es tut? Sie versuchen eine Strategie in Putins Handeln zu erkennen – und achten auch auf kleinste Veränderungen.

Geheimdienste sollen Infos sammeln

Auch Politikerinnen und Politiker, die einschätzen müssen, was da in Zukunft noch kommen könnte, drängen auf mehr Informationen. So sollen etwa hochrangige US-Beamtinnen und die Geheimdienste explizit beauftragt haben, auch Hinweise auf die geistige Verfassung des russischen Präsidenten zu sammeln, berichtet CNN.

Die Bemühungen sind also gross, doch manche warnen vor Ferndiagnosen. «Es ist so», sagte etwa Sam Greene, der Leiter des Russia Institute am Londoner King's College der «LA Times», «analytisch habe ich da die Schwierigkeit, dass ich nicht weiss, wie ich unterscheiden könnte zwischen einem Putin, der verrückt ist, und einem Putin, der die Welt einfach sehr anders versteht als ich».

Das gilt es immer zu bedenken. Und trotzdem kursieren in Äusserungen von Experten derzeit drei Erklärungsmuster. Einige sehen Putins Verhalten als Taktik, andere fürchten gesundheitliche Probleme – und Dritte, darunter der deutsche Auslandsgeheimdienst, erkennen eine immer ausgeprägtere geschichtsrevisionistische Ideologie bei Putin.

«Madman Putin»

Manche gehen davon aus, dass Putin sich aus strategischen Gründen so drohend und unberechenbar verhält. Das suggerierte etwa der finnische Präsident nach einem Telefonat mit Putin, in dem dieser urplötzlich in einen anderen Ton umgeschaltet und Forderungen vorgetragen haben soll: «Das könnte auch Absicht sein – nämlich um Verwirrung zu stiften», sagte Sauli Niinistö, der durchaus als Putin-Kenner gilt, bei CNN.

Niinistö spielt damit auf eine Taktik an, die schon andere Staatschefs angewendet haben sollen: die sogenannte Madman-Theorie, die Theorie vom Verrückten. Die Idee: Einem politischen Akteur können Vorteile daraus entstehen, wenn er sich komplett unberechenbar präsentiert – etwa weil es bei einem Widersacher so grosse Furcht schürt, dass dieser einlenkt.

Dem ehemaligen US-Präsidenten Richard Nixon wird nachgesagt, diese Taktik im Vietnamkrieg angewendet zu haben. Auch Ex-Präsident Donald Trump soll sich daran versucht haben.

«Die Gefahr, die in Putins Gehirn lauert»

Andere vertreten die Ansicht, Putin habe mentale Probleme. Die ehemalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel soll bereits 2014 gegenüber dem damaligen US-Präsidenten Obama gesagt haben, sie sei «verwirrt» von Putin. So berichteten es Insider der «New York Times». «In einer anderen Welt» befinde sich dieser, von jeder Realität weit entfernt.

FILE - In this June 6, 2014, file photo, German Chancellor Angela Merkel, left, Russian President Vladimir Putin, right, and then Ukrainian president-elect Petro Poroshenko, center, talk as they take  ...
Merkel und Putin 2014: «In einer anderen Welt». Im Hintergrund der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroshenko.Bild: keystone

Im selben Jahr veröffentlichte der Neurowissenschaftler Ian Robertson einen Aufsatz in dem Magazin «Psychology Today» mit dem Titel: «Die Gefahr, die in Wladimir Putins Gehirn lauert» .

Darin schreibt der Psychologe, der in Dublin das Trinity College Institute of Neuroscience gründete, auch: «Es besteht wenig Zweifel daran, dass sich sein Gehirn neurologisch und physisch so sehr verändert hat, dass er fest und ernsthaft glaubt, dass Russland ohne ihn dem Untergang geweiht ist.» Lange Perioden absoluter Macht hätten ihn hochgradig egozentrisch, narzisstisch und blind für Risiken gemacht.

In einer «Blase»

Auch heute werden solche Warnungen wieder laut: Der britische Premier Boris Johnson sagte, dass Putin ein «irrationaler Akteur» sein könnte. Und: «Wir müssen im Moment akzeptieren, dass Wladimir Putin möglicherweise ohne jede Logik denkt, und das anstehende Desaster nicht sieht.» 

So schätzt auch der ehemalige US-Offizier Herbert Raymond McMaster die Lage ein: «Ich denke nicht, dass er ein rationaler Akteur ist», so der ehemalige Sicherheitsberater Donald Trumps bei CBS. Der russische Präsident lebe in einer «Blase». Jeder in seinem Umfeld sage ihm, was er hören wolle. Das wurde der Welt veranschaulicht, als Putin in einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates seine engsten Berater regelrecht vorführte. 

epa09775886 Russian President Vladimir Putin chairs a meeting with members of Russia's Security Council in the Kremlin in Moscow, Russia, 21 February 2022. The meeting focused on the issue of rec ...
Putin bei einem Treffen mit dem Sicherheitsrat am 21. Februar: Jeder im Umfeld des Präsidenten sage genau das, was dieser hören wolle, so ein ehemaliger US-Offizier.Bild: keystone

Auch James Clapper, der unter US-Präsident Obama die Geheimdienste koordinierte, zeigte sich im CNN-Interview besorgt. Clapper bezog sich dabei vor allem auf Putins Drohung, der Westen solle sich nicht einmischen.

«Denken Sie, er hat das in sich?»

Ein solcher Fall hätte Konsequenzen, wie es sie noch nie zuvor in der Geschichte gegeben habe, betonte Putin. Das wurde von Beobachtern als die Androhung einer nuklearen Eskalation interpretiert. Wenig später hat Putin tatsächlich die russischen Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt.  

ZUR MELDUNG, DASS JAMES CLAPPER, DER CHEFKOORDINATOR DES US-GEHEIMDIENSTES, ZURUECKTRITT, STELLEN WIR IHNEN AM DONNERSTAG, 17. NOVEMBER 2016, FOLGENDES ARCHIVBILD ZUR VERFUEGUNG - National Intelligenc ...
James Clapper: «Nun, ich persönlich denke, dass er verrückt ist.»Bild: AP

«Denken Sie, er hat das in sich? (...) So weit zu gehen, dass er den Knopf drückt?», fragte die Moderatorin den pensionierten General Clapper dazu. «Nun, ich persönlich denke, dass er verrückt ist», antwortete dieser. Er sei im Moment wirklich besorgt über das emotionale Gleichgewicht des russischen Präsidenten.

«Ein anderer Putin»

Auch im Geheimdienstausschuss des US-Senats fand ein Treffen zu dem Thema statt. Was genau besprochen wurde, ist nicht bekannt; die Treffen finden unter strikter Geheimhaltung statt. «Ich wünschte, ich könnte mehr darüber sagen», schrieb der republikanische Senator Marco Rubio aus Florida auf Twitter. Doch er könne sagen, dass für viele mit Putin etwas offensichtlich nicht stimme. 

Eine deutliche Veränderung sei beim russischen Präsidenten auszumachen. 

epa01321401 US Secretary of State Dr Condoleezza Rice speaks during a press conference in Manama, Bahrain, 21 April 2008. Condoleezza Rice is in Bahrain for talks with counterparts from Egypt, Jordan, ...
Condoleezza Rice: «Ein anderer Putin»Bild: EPA

Auch für Condoleezza Rice ist der Mann nun «ein anderer Putin», das sagte sie Fox News. Rice war unter George W. Bush zunächst Sicherheitsberaterin, dann US-Aussenministerin – und oft bei Treffen mit Putin anwesend. Dabei sei dieser immer berechnend und kalt gewesen. «Launenhaft» erscheine er ihr hingegen jetzt.

Laut NBC haben US-Geheimdienste zudem belastbare Erkenntnisse darüber, dass Putin zunehmend frustriert sei und diesen Ärger vermehrt an Vertrauten auslasse. Das sei unüblich, schliesslich habe der ehemalige KGB-Offizier seine Emotionen normalerweise unter Kontrolle. Eindeutige Beweise dafür, dass Putin «mental instabil» sei, gebe es aber nicht.

Putin als strenger Ideologe

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat eine andere Wahrnehmung von Putin. Nachdem er ihn Anfang Februar zu persönlichen Gesprächen getroffen hatte, sagte Macron: «Der Putin von heute war anders als der Putin von vor drei Jahren.» Er sei ihm «strenger, isolierter» vorgekommen, so berichteten es Quellen aus seinem Umfeld der Nachrichtenagentur Reuters.

FILE - Russian President Vladimir Putin, left, listens to French President Emmanuel Macron during their meeting in the Kremlin in Moscow, Russia, Feb. 7, 2022. With Russia carrying out a massive milit ...
Putin und Macron am langen Tisch Anfang Februar: Putin bestand auf die grosse Distanz, weil Macron keinen russischen PCR-Test vor Ort machen wollteBild: keystone

Am Donnerstag telefonierten die beiden Staatschefs zum dritten Mal seit Beginn der Invasion. Dabei habe sich Putin «auf neutrale und klinische Weise» ausgedrückt, verlautete es aus Paris. Und Putin habe weiterhin an seinem paranoiden Narrativ der «Entnazifizierung» der Ukraine festgehalten. «Du erzählst Lügen», habe Macron ihm daraufhin gesagt.

Dazu passt offenbar auch die Einschätzung des deutschen Auslandsgeheimdienstes BND. Dieser hat laut «Tagesschau» derzeit keine Belege für eine Erkrankung Putins. Dem Bericht zufolge habe Putin sich aber in den vergangenen Monaten zurückgezogen und sich viel mit historischen und ideologischen Schriften befasst. Teilweise soll er auch selbst Texte verfasst haben.

Dazu passt Putins Kriegsankündigung aus der vergangenen Woche. In Ihr legte er fast eine Stunde lang historisch dar, warum die Ukraine kein eigenständiger Staat sei und zu Russland gehöre. In dieser Theorie ist Putin also weder ein «Madman»-Stratege noch verrückt. Er handelt stattdessen aus tiefer Überzeugung.

Auch wenn Putin also nicht verrückt ist, macht das die Lage nicht zwangsläufig einfacher.

Verwendete Quellen:

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Ukraine-Krieg: die Akteure im Überblick
1 / 14
Ukraine-Krieg: die Akteure im Überblick
Durch Russlands Angriff auf die Ukraine in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar, ist die jahrelange Ukraine-Krise von einem blossen Konflikt zum Krieg geworden. Wer die wichtigsten Beteiligten sind, erfährst du hier:

Wladimir Putin ist seit 2000 (mit Unterbrechung von 2008 bis 2012) Präsident von Russland. Er sieht die Stabilität seines Systems seit den frühen Jahren seiner Präsidentschaft durch den Westen bedroht und will verhindern, dass die Ukraine Nato-Mitglied wird und eine westlich orientierte Demokratie aufbaut. Am 24. Februar befahl Putin schliesslich den Angriff auf die Ukraine. Offizielle Leitmotive für den Krieg sind die «Demilitarisierung und Entnazifizierung».
... Mehr lesen
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Russischer Ökonom trinkt im TV auf den «Tod der Börse»
Video: twitter
Das könnte dich auch noch interessieren:
179 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Wandervogel
05.03.2022 19:28registriert Juni 2019
Vielleicht ist er schwer krank und hat nur noch wenige Jahre zu leben. Darum muss er die Ziele die er in einem langfristigen Horizont erreichen wollte, sehr schnell erreichen und hat sich für den Krieg entschieden. Er ist ja merklich aufgedunsen. Aber eben, dass ist nur (m)eine These.
18411
Melden
Zum Kommentar
avatar
7Gänseblümchen
05.03.2022 20:15registriert August 2020
Ich dachte schon vor einigen Tagen an Frontallappendemenz. Es würde zum Alter, sozialen Rückzug, der zunehmenden (scheibaren?) Emotionalität/Aggression und zum zunehmenden Egozentrismus passen, wobei da bei Putin wohl schon vorher nicht mehr viel Luft nach oben war.

Aber letztendlich ist die Suche nach einer Erkrankung vielleicht auch nur ein Ausweg um sich nicht mit der Möglichkeit auseinandersetzen zu müssen, dass es einfach auch abgrundtief böse "Menschen" geben kann.
481
Melden
Zum Kommentar
avatar
Pontifax
05.03.2022 21:35registriert Mai 2021
Würde das Russische Militär seiner Verpflichtung, das Vaterland unter allen Umständen zu schützen, nachkommen, würde es Putin entmachten. Aber sie dienen lieber Putin als Russland. Somit sind sie Landesverräter.
383
Melden
Zum Kommentar
179
Bürger Nordmazedoniens wählen neues Staatsoberhaupt

In Nordmazedonien hat am Mittwoch (7.00 Uhr MESZ) die Präsidentenwahl begonnen. Rund 1,8 Millionen Bürger sind dazu aufgerufen, ihre Stimme abzugeben.

Zur Story