Wette auf Russen-Vorstoss stürzt Top-Analysten des Ukraine-Kriegs in Glaubwürdigkeitskrise
Auf ihre Karten und Analysen zum Krieg in der Ukraine vertrauen Medien, Experten und sogar Regierungen: Das Institute for the Study of War, kurz ISW, ist eine der wichtigsten Quellen für Kriegsinformationen weltweit. Jetzt bekommt das renommierte Institut mit Sitz in Washington ein handfestes Glaubwürdigkeitsproblem.
Der Grund ist ein Vorfall am 15. November – und wie das Institut damit umgeht.
An diesem Tag setzten Nutzer der Online-Wett-Plattform Polymarket mit hohen Einsätzen darauf, dass russische Truppen bis zum Abend die ostukrainische Stadt Myrnohrad einnehmen würden. Grundlage für die Auswertung solcher Wetten sind unter anderem die täglichen Frontkarten des ISW.
Kurz vor der Abrechnung der Wette wurde auf der ISW-Karte ein strategisch wichtiger Punkt in Myrnohrad plötzlich als von Russland kontrolliert markiert – obwohl es dafür keine verlässlichen Hinweise gab. Polymarket wertete dies als russischen Geländegewinn und zahlte die Wetten aus, was einzelnen Nutzern extreme Gewinne einbrachte. Insgesamt sollen 1,3 Millionen eingesetzt worden sein.
Am nächsten Morgen war die Änderung auf der ISW-Karte wieder verschwunden. Zwei Tage später erklärte das ISW in einer Stellungnahme, es habe sich um eine «nicht autorisierte» Bearbeitung gehandelt, die ohne Genehmigung erfolgt sei. Wenig später verschwand der Name eines ISW-Geodaten-Mitarbeiters von der Website.
Über den Fall berichtete das Onlinemagazin «Responsible Statecraft». Das Portal gehört zum Quincy Institute for Responsible Statecraft, einem in Washington ansässigen aussenpolitischen Thinktank. Das Magazin stützt sich dabei auf Recherchen des US-Techmediums «404 Media», das den Fall zuerst öffentlich gemacht hatte.
Vorwurf der mangelhaften Aufklärung
Das ISW erklärte am 17. November, eine nicht autorisierte und nicht genehmigte Änderung an seiner interaktiven Ukraine-Karte sei in der Nacht vom 15. auf den 16. November vorgenommen und noch vor Beginn des regulären Arbeitsablaufs wieder entfernt worden. Die Änderung habe keinen Einfluss auf die offiziellen Lagekarten oder Analysen des ISW gehabt.
Auf Anfrage von CH Media verschickte das Institut lediglich ein allgemeines Statement: «ISW verpflichtet sich, verlässliche und objektive Einschätzungen zu Konflikten bereitzustellen, die eine Bedrohung für die Vereinigten Staaten sowie ihre Verbündeten und Partner darstellen, um Entscheidungsträger, Journalisten, humanitäre Organisationen und Bürger über verheerende Kriege zu informieren», heisst es darin. ISW sei darauf aufmerksam geworden, «dass einige Organisationen und Einzelpersonen Wetten auf den Verlauf des Krieges in der Ukraine fördern und dass die Karten von ISW zur Abwicklung dieser Wetten verwendet werden. ISW missbilligt solche Aktivitäten ausdrücklich und erhebt nachdrücklich Einspruch gegen die Nutzung unserer Karten zu diesen Zwecken, für die wir ausdrücklich keine Zustimmung erteilen».
Auf die Frage nach dem Analysten, der die Karten änderte, sowie nach der mangelhaften Aufarbeitung des Falls, ging das ISW nicht ein.
Bei Sicherheitsexperten sorgt der Fall für Fassungslosigkeit. Michael Kofman, einer der renommiertesten Militärexperten überhaupt, schrieb auf X, er hoffe, dass das ISW die Vorwürfe aufklärt.
I hope ISW looks into this claim. https://t.co/MFw9zRk1qi
— Michael Kofman (@KofmanMichael) December 5, 2025
Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Uni Hamburg kritisiert das Institut scharf. Im Gespräch mit CH Media sagt er: «Wie kann es sein, dass beim ISW offensichtlich Leute angestellt werden wie dieser Analyst, der scheinbar in die eigene Tasche arbeitet?»
Auch der Umgang mit dem Fall sei skandalös, sagt Kühn. Statt sauber aufzuklären, habe man beim ISW offenbar versucht, «den Deckel draufzuhalten» und sei erst dann zaghaft an die Öffentlichkeit gegangen, als einzelne Medien über den Vorgang berichteten.
Kühn ist Leiter des Forschungsbereichs Rüstungskontrolle und neue Technologien. Er publiziert selbst regelmässig zum Ukraine-Krieg. Der Fall sei deshalb so erschütternd, weil das ISW zu den Top 3 der weltweit führenden Quellen zähle, was die Echtzeit-Nachverfolgung des russischen Angriffskriegs angehe.
Die Analysen des Instituts werden von Regierungen zitiert, regelmässig etwa von der britischen. Dass eine Nichtregierungsorganisation mit dieser Prominenz einen solchen Fall nicht besser aufklärt, sei «äusserst bedenklich». Der «Gold-Standard» des ISW in Sachen Ukraine-Analysen habe «sich damit erledigt», sagt Kühn. «Jetzt könnte man alles anzweifeln.»
Wetten auf die Leiden des Krieges
An diesem Fall ist allerdings nicht nur das Verhalten des ISW fragwürdig. In den Mittelpunkt gerückt wird zudem die Tatsache, dass normale Bürger auf einzelne Schlachten im Ukraine-Krieg wetten können.
Vor rund zwei Wochen sorgte bereits ein anderer Fall für Aufsehen, bei dem ebenfalls Kriegskarten aus der Ukraine eine Rolle spielten. Das ukrainische Projekt Deep State Map warf einem US-Wettanbieter vor, illegal seine Karten für Wettzwecke zu missbrauchen.
Auch Sicherheitsexperte Kühn ist entsetzt: «Da wetten Leute auf das Elend und die Gewalt im Krieg», sagt er. Das öffne Tür und Tor auch für mögliche Manipulationen. «Das ist pervers», so Kühn. Das ISW tue in jedem Fall gut daran, den Fall so transparent wie möglich aufzuklären.
