Etliche Male hatte er sich per Video zugeschaltet, jetzt stand er leibhaftig da: In feldgrünen Hosen, schwarzem Pullover und mit dicken Ringen unter den Augen trat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am Donnerstag vor das EU-Parlament in Brüssel. Der stehende Applaus war ihm sicher. «Slawa Ukraini!» – «Ruhm der Ukraine» riefen ihm die Abgeordneten zu. Selenskyj nahm es dankend entgegen.
Und an Dank hatte er noch einiges im Gepäck: In mit Bedacht gewählten Worten wandte er sich direkt an die 450 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürger. Nach bald einem Jahr Krieg wollte der 45-Jährige seine Wertschätzung zum Ausdruck bringen für die Unterstützung, welche sein Volk in den vergangenen Monate erhalten hat. «Djakuju!» – «Danke!», sagte Selenskyj immer wieder auf Ukrainisch, einer Sprache, die nach dem erfolgreichen EU-Beitritt im Haus der EU-Volksvertretung bald regelmässig gesprochen werde, so Selenskyj.
Gleichzeitig erklärte der Kriegspräsident aber auch, warum Europa alles andere als selbstlos handle, wenn es die Ukraine auch weiterhin unterstütze. Russlands Präsident Wladimir Putin führe einen «totalen Krieg» nicht nur gegen die Ukraine, sondern die europäische Lebensart an sich, gegen Demokratie und das Prinzip offener Gesellschaften. Es gelte jetzt im «historischen Kampf» gegen die «antieuropäischste Kraft der modernen Welt» Seite an Seite zu stehen.
Was das konkret bedeutet, führte der 45-Jährige einige Strassenzüge weiter im Kreis der 27 EU-Staats- und Regierungschefs aus: «Artilleriewaffen, Munition, moderne Panzer, Langstrecken-Raketen, Kampfjets» – all das brauche die Ukraine jetzt, und zwar schnell. Die Russen würden ihr Kampfpotenzial wieder in die Höhe schrauben.
Die kommenden Wochen und Monate seien entscheidend. «Wir haben den Krieg aufgehalten. Jetzt müssen wir ihn auch gewinnen», redete Selenskyj den EU-Regierungschefs ins Gewissen. Angesprochen auf die Frage, ob er denn auch konkrete Zusagen erhalten habe, wie es am Vortag in London mit dem Versprechen für neue Raketen und der Aussicht auf Kampfjets der Fall war, sagte Selenskyj: «Ich habe gar keine Erlaubnis, ohne Ergebnisse wieder nach Hause zu fahren».
Nur: Bislang stehen solche Ergebnisse noch aus. Das Treffen mit Bundeskanzler Olaf Scholz und Emmanuel Macron am Vorabend sei zwar sehr «kraftvoll und positiv» verlaufen. Er sei zuversichtlich, dass die Ukraine noch bessere Ausrüstung erhalten werde, inklusive Kampfjets. Bei den Waffenlieferungen sei aber entscheidend, dass man «keine Angst vor Russland» habe, so Selenskyj.
Dass genau das noch immer der Fall ist, räumte aber der niederländische Premierminister Mark Rutte ein: «Wir müssen um jeden Preis sicherstellen, dass wir in keine direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland geraten». Und auch Bundeskanzler Scholz warnte mehrmals vor einem «Überbietungswettbewerb» bei Waffenlieferungen.
Eine dezidiert andere Meinung hat da Kaja Kallas, die Premierministerin Estlands. Ihr Land selbst habe zwar keine Kampfflugzeuge. Aber: «Wenn wir sie hätten, würden wir sie der Ukraine zur Verfügung stellen.» Allgemein stellte sie zu den Waffenlieferungen fest: «Mit jeder Verzögerung, jedem Zaudern steigt bloss der Preis. Wenn wir alles bereits im Januar gegeben hätten, was wir heute geben, stünden wir vor einem anderen Resultat» (aargauerzeitung.ch)