International
Ukraine

Die russische Winter-Offensive läuft – mit überschaubarem Erfolg

Ukrainian soldiers fire at the Russian positions in the frontline close to Bakhmut, Donetsk region, Ukraine, Wednesday, Feb. 8, 2023. (AP Photo/Libkos)
Ukrainische Artillerie bei Bachmut: Die Russen schicken immer mehr Soldaten in die Schlacht.Bild: keystone

Die russische Winter-Offensive läuft – mit überschaubarem Erfolg

Zum Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine wird eine Grossoffensive erwartet. Experten sind skeptisch. Sie gehen von kleineren Angriffen aus, die schon begonnen haben.
09.02.2023, 17:1111.02.2023, 15:49
Mehr «International»

Wolodymyr Selenskyj hat die Ukraine verlassen, zum zweiten Mal seit Beginn des russischen Einmarschs vor bald einem Jahr. Nach seiner Reise nach Washington kurz vor Weihnachten war er in Europa unterwegs. In London, Paris und am EU-Gipfel in Brüssel bat der ukrainische Präsident um weitere Waffenlieferungen, besonders von Kampfjets.

Auf das aktuelle Kriegsgeschehen werden sie keinen Einfluss mehr haben. Dieses verläuft für die Ukraine schwierig, wie Selenskyj in den letzten Tagen einräumen musste. An mehreren Abschnitten der Front haben die russischen Invasoren den Druck erhöht. Beobachter erwarten eine Grossoffensive im Hinblick auf den Jahrestag am 24. Februar.

Aus der Ferne lässt sich die Lage nur schwer beurteilen. Es gibt jedoch Hinweise, dass die russische Winter-Offensive bereits begonnen hat. Sie findet nicht mit einem grossen Knall statt, sondern durch eine Verstärkung der Angriffe mit den im letzten Herbst mobilisierten Soldaten, die nun an die Front verlegt und ins Gefecht geschickt werden.

«Zu wenig Ausrüstung»

Renommierte Experten gehen nicht davon aus, dass es zu einer Offensive in grösserem Umfang kommen wird. Zu ihnen gehört der gebürtige Ukrainer Michael Kofman, einer der besten Kenner des russischen Militärs. «Russland konzentriert sich auf den Donbass, sein Offensivpotenzial ist begrenzt», sagte der US-Forscher im Interview mit dem «Spiegel».

Das Problem der Invasoren bringt er auf einen simplen Nenner: «Zu wenig Ausrüstung, zu wenig Artilleriemunition.» Dieses Manko lasse sich auch durch eine grosse Zahl an neuen Soldaten – die Rede ist von bis zu einer halben Million – nicht kompensieren, von denen viele «nie an der Waffe ausgebildet wurden», meinte Kofman gegenüber dem «Spiegel».

Eroberung des Donbass

Obwohl die russischen Rüstungsfabriken angeblich auf Hochtouren laufen, scheint der Armee das Material auszugehen. Das beginnt mit den Präzisionsraketen. Seit Anfang Jahr sind die Angriffe auf die ukrainische Infrastruktur selten geworden. Doch selbst bei den Artilleriegranaten läuft der Nachschub an die Front anscheinend schleppend.

In einem Twitter-Thread bekräftigte Michael Kofman deshalb seine Einschätzung, wonach sich die russischen Angriffe auf die vollständige Eroberung des Donbass beschränken dürften. Dies deckt sich mit Erkenntnissen des ukrainischen Geheimdiensts, wonach Kriegsherr Wladimir Putin seinen Generälen befohlen habe, den Donbass bis März einzunehmen.

Angriffe in der Region Luhansk

Gegenüber Behauptungen, Russland könne auch grosse Städte wie Charkiw oder die Hauptstadt Kiew ins Visier nehmen, zeigte sich Kofman skeptisch. Ein erneuter Vorstoss von Belarus Richtung Kiew mache «wenig Sinn». Dafür habe Russland zu wenig Truppen im Nachbarland stationiert. Und die Ukrainer haben die Grenzbefestigungen verstärkt.

Im Donbass aber läuft die russische Offensive. Serhij Hajdaj, der ukrainische Gouverneur der Verwaltungsregion Luhansk, schrieb am Donnerstag auf Twitter von einer «maximalen Eskalation» in Richtung Kreminna: «Die Besatzer versuchen, unsere Verteidigungslinien zu durchbrechen.» Von Kreminna aus könnten die Russen auf die Stadt Kramatorsk vorstossen.

Beide haben Probleme mit Material

Noch aber hält das ukrainische Abwehrdispositiv, wie Hajdaj der Nachrichtenagentur Reuters erklärte. Die Angreifer hätten «keinen bedeutenden Erfolg» errungen. Allerdings bräuchten die Ukrainer schweres Gerät und Artilleriemunition, betonte der Gouverneur: «Dann können wir uns nicht nur verteidigen, sondern eine starke Gegenoffensive lancieren.»

Nicht nur die Russen haben ein Problem mit dem fehlenden Nachschub, sondern auch die Ukrainer. Das zeigt sich bei der Verteidigung der Stadt Bachmut, um die seit Monaten erbittert gekämpft wird. In den letzten Tagen haben sich die Kämpfe nochmals intensiviert, unter hohen Verlusten auf beiden Seiten, wie die «Washington Post» berichtete.

Wuhledar wird zum «Fleischwolf»

Dabei sei den Ukrainern aufgefallen, dass der Artilleriebeschuss abgenommen habe, womöglich wegen fehlendem Nachschub, und die Russen ihre Kämpfer fast ungeschützt in die Schlacht werfen würden. «Sie haben nicht mehr viele Mörser und Granaten, aber sie haben unerschöpfliche menschliche Ressourcen», sagte eine ukrainische Armeesprecherin.

Ob eine solche Taktik langfristig Erfolg haben wird, darf man bezweifeln. Das zeigt sich in der Kleinstadt Wuhledar im Süden der Region Donezk, um die seit mehreren Tagen gekämpft wird. Wuhledar sei «zu einem Fleischwolf für die russische Armee geworden, mit enormen Auswirkungen auf die grössere Offensive», schrieb das Magazin «Forbes».

Russische Abwärtsspirale

So habe es am Montag einen Angriffsversuch zweier mechanisierter Bataillone mit einigen Dutzend T-80-Panzern und Schützenpanzern gegeben. Er habe mit schweren Verlusten und einem Rückzug geendet. Rund 30 zerstörte Kampf- und Schützenpanzer blieben zurück. Fotos und Videos sollen das zerbombte Gerät und die Leichen toter Soldaten zeigen.

Für den Militärexperten von «Forbes» befindet sich die russische Armee in einer eigentlichen Abwärtsspirale: «Inkompetenz führt zu noch grösseren Verlusten, die die Armee zwingen, mehr Rekruten auszuheben, sie noch schlechter auszubilden und noch schneller an die Front zu schicken.» Wo eine motivierte und abgehärtete ukrainische Armee wartet.

Ukraine weiter im Vorteil

«Wenn das alles ist, was die Russen nach einem Jahr umfassender Kämpfe in der Ukraine zustande bringen, könnte die hochgespielte Winter-Offensive kostspielig verlaufen – und kurz», so das Fazit von «Forbes». Selbst das angebliche Minimalziel, die Eroberung des gesamten Donbass, könnte unter diesen Umständen unerreichbar sein.

Für Michael Kofman befindet sich die Ukraine trotz personeller und materieller Engpässe mit Blick auf den weiteren Jahresverlauf weiterhin im Vorteil, auch dank der Unterstützung durch das Ausland. Entscheidend sei der Nachschub, damit sie 2023 selber in die Offensive gehen könne. Selenskyjs Kampfflugzeuge sind dabei vermutlich nicht der entscheidende Faktor.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Waffenlieferungen von Grossbritannien an die Ukraine
1 / 7
Waffenlieferungen von Grossbritannien an die Ukraine
Flugabwehr-Systeme des Typs Stormer
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Ukrainische Gebirsjäger stürmen russischen Schützengraben
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
60 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
JBV
09.02.2023 17:45registriert September 2021
Ich wünsche den Ukrainern Kraft, Stärke und Entschlossenheit um diesen Angriffen standzuhalten.

Ich hoffe, dass die Informationen über russische Probleme beim Material, der Munition und dem Nachschub der Wahrheit entsprechen.
1497
Melden
Zum Kommentar
avatar
Haarspalter
09.02.2023 18:08registriert Oktober 2020
«Die Russen haben unerschöpfliche menschliche Ressourcen»

Menschlichkeit sehe ich bei den Russen beim besten Wilen nicht.

Eher eine Armee von bedauernswerten, willenlosen Zombies, welche von Millionen von kriegsgeilen, fernsehglotzenden Vampiren vom Sofa aus in die Hölle geschickt werden.

Noch vor einigen Jahren dachte ich, dass Russland politisch zwar eine fragwürdige, aber zumindest kulturell eine hochstehendende Gesellschaft sei.

Offensichtlich ist der Zenit überschritten.
1309
Melden
Zum Kommentar
avatar
Martin Baumgartner
09.02.2023 18:24registriert Juni 2022
"Wonach Kriegsherr Wladimir Putin seinen Generälen befohlen habe, den Donbass bis März einzunehmen."

Und wenn nicht?

Geht er dann selbst an die Front?
1103
Melden
Zum Kommentar
60
Polizei räumt besetztes Uni-Gebäude in New York – Ausschreitungen in Los Angeles
Ein Grossaufgebot der New Yorker Polizei hat nach der Eskalation propalästinensischer Proteste an der Elite-Universität Columbia das von Studierenden besetzte Hochschulgebäude geräumt. Auch an der kalifornischen UCLA kam es zu Ausschreitungen.

Am Dienstagabend (Ortszeit) strömten hunderte Polizisten auf den Campus im Norden Manhattans, wie eine dpa-Reporterin vor Ort berichtete. Die Beamten drangen in die besetzte Hamilton Hall ein und nahmen mehrere Demonstranten fest. Bürgermeister Eric Adams sprach von insgesamt etwa 300 Festnahmen an der Columbia-Universität sowie am City College der Metropole.

Zur Story