Der Weizen steht kaum kniehoch, trotzdem beginnt Bauer Maxim Worobiow mit der Ernte. «Der Regen hat die Halme und die Ähren nach unten gedrückt, viele Weizenkörner sind auf den Boden gefallen und damit verloren.» Über das riesige Feld mitten im Donbass rattert ein grüner Mähdrescher. Die nächsten Stellungen der russischen Invasionsarmee befinden sich etwa 30 Kilometer weiter südöstlich. Worobiows Äcker liegen somit in der Reichweite der russischen Artillerie.
«Einige Felder sind durch Granatbeschuss in Brand geraten», erzählt der 35-jährige Bauer, «und in manchen Gebieten kann gar nicht geerntet werden, weil es zu viele Minen hat». Vermint wird das Gelände einerseits durch russische Raketen, die vor dem Aufschlag auf dem Boden sogenannte Schmetterlingsminen in der Luft verstreuen. Diese Mini-Sprengkörper haben kleine Flügel, die den Fall bremsen, so dass die Minen beim Aufprall unversehrt bleiben. Die Sprengkraft ist so dosiert, dass die winzigen Höllenmaschinen meist nicht töten, sondern «nur» einen Fuss abreissen.
Weizenfelder werden aber auch von ukrainischen Soldaten vermint, damit sich deren Stellungen besser verteidigen lassen. In solchen Fällen stehen in der Regel rote Schilder mit einem weissen Totenkopf als Warnung inmitten des Weizenmeers. «Erst vor zwei Wochen ist ein Kalibr-Marschflugkörper an unserem Haus vorbeigeflogen, und ein anderes Mal war es eine Smertsch-Rakete», erinnert sich Bauer Worobiow.
Die Smertsch sind bei Zivilisten und Soldaten gleichermassen gefürchtet, weil sie im Zielanflug eine grosse Zahl kleiner Bomben über eine grössere Fläche verstreuen. Manche der Bomben explodieren beim Aufprall aber nicht und bleiben als Blindgänger auf den Äckern liegen.
Die direkten Folgen des Kriegs sind für Maxim Worobiow allerdings eher nebensächlich. Viel mehr Kopfzerbrechen bereiten ihm die indirekten Folgen. Weil die Schwarzmeerhäfen von den Russen blockiert werden, gelangten Düngemittel nicht rechtzeitig in den Donbass. «Der Düngermangel ist einer der wichtigsten Gründe, warum sich unsere Weizenerträge dieses Jahr halbieren», klagt Worobiow.
Der Treibstoff, den man bei den wenigen geöffneten Tankstellen in der Region tanken kann, ist ausserdem rationiert und reicht für Dieselfresser wie Erntefahrzeuge bei weitem nicht aus. «Der nächste Ort, wo wir Diesel in ausreichenden Mengen beschaffen können, ist 160 Kilometer entfernt», sagt der Landwirt.
Und dann gibt es da noch das Transportproblem. Das kürzlich geschlossene Abkommen zwischen Russland einerseits sowie der UNO und der Türkei andererseits hat es bisher erst einem Schiff erlaubt, die Hafenstadt Odessa zu verlassen - mit 26'000 Tonnen ukrainischem Mais an Bord. Doch das im Vertrag vorgesehene Prozedere ist höchst kompliziert und zeitraubend.
In Istanbul müssen ankommenden Schiffe zuerst von Vertretern Russlands, der Türkei und der Ukraine inspiziert werden, bevor sie zu ihren Destinationen weiterfahren dürfen. Wegen der russischen Seeblockade wird eine Hungersnot in Teilen der Dritten Welt befürchtet. Die Ukraine ist einer der wichtigsten Getreideexporteure der Welt.
Es wird geschätzt, dass in den ukrainischen Schwarzmeerhäfen mehr als 20 Millionen Tonnen Getreide auf den Export warten. Um diese Menge im Rahmen des UNO-Abkommens auszuführen, würde es mehrere Hundert Frachter brauchen. Dass es dazu kommt, ist beim derzeitigen Tempo undenkbar, denn der Vertrag läuft schon nach 120 Tagen aus. Die Ukraine und ihre Nachbarstaaten haben sich deshalb längst auf Alternativrouten geeinigt.
Von Bauer Worobiows Feldern bis zur polnischen Grenze sind es nur schon in Luftlinie rund 1000 Kilometer. Bei der Ausfuhr mit dem Zug oder Lastwagen Richtung Polen macht das Getreide also einen riesigen Umweg, denn es muss dann über Ostseehäfen in den Nahen Osten oder nach Afrika verschifft werden. Der Weg über das Schwarze Meer, den Bosporus und anschliessend durchs Mittelmeer, ist viel kürzer. Und für Worobiow auch der Strassentransport vom Donbass bis an die Schwarzmeerküste.
Das Problem dabei sind aber nicht nur die blockierten Häfen, sondern auch der teure Transport auf den Strassen. Eine Tonne Weizen ans Meer zu bringen, koste ihn umgerechnet etwa 190 Franken. Die Transportkosten seien auch gestiegen, weil Spediteure und Weizenhändler die Risiken scheuen, vom relativ sicheren Westen und Süden des Landes bis in den kriegsversehrten Donbass zu fahren. All diese Faktoren führten dazu, dass die Bauern im Donbass pro Kilogramm Weizen umgerechnet noch etwa 5 Rappen erhalten. Vor dem Krieg waren es noch etwa 17 Rappen, was einem Rückgang um ungefähr 70 Prozent entspricht.
Welche Exportwege stehen der Ukraine im Süden ausser dem von den Russen kontrollierten Schwarzen Meer sonst noch zur Verfügung? Als Alternative bietet sich das Nachbarland Rumänien an. Die Grenze zwischen den beiden Staaten bildet über weite Strecken die Donau. Und die Donau ist schiffbar. Wir machen uns also auf den Weg von Worobiows Feldern Richtung Donau, auf den Spuren des ukrainischen Getreides. Es ist eine zweitägige Autofahrt in die Region der Hafenstadt Odessa. Von dort führen eine Eisenbahnlinie und eine Strasse zum Donauhafen Ismajil.
Bei Odessa wird die Küstenlinie immer wieder durch Lagunen und Flussmündungen unterbrochen. Die grösste davon liegt beim Strand von Satoka, wo ein Damm und eine Brücke die beiden Ufer verbinden. Kurz vor der Brücke ist unsere Fahrt aber zu Ende. An einer Strassensperre befehlen uns Soldaten umzukehren, denn die Brücke sei für den Verkehr gesperrt. Tatsächlich haben die Russen Satoka immer wieder mit Lenkwaffen angegriffen und die Brücke schwer beschädigt.
Es bleibt deshalb nur der Umweg über das Landesinnere in die Nachbarrepublik Moldawien. Vor dem Grenzübergang stauen sich in beide Richtungen Lastwagen: Bei der Ausreise vor allem Getreidetransporter und in der Gegenrichtung Tanklaster. Die Strassen durch Moldawien sind teilweise extrem schlecht, eine Tortur für Fahrzeuge und Passagiere. Das ukrainische Getreide gelangt auf diesem Weg entweder ins ukrainische Ismajil oder aber in den kleinen Donauhafen Moldawiens, Giurgiulesti.
Von Giurgiulesti oder dem benachbarten rumänischen Hafen Galati gibt es dann zwei Routen: entweder Donau abwärts direkt ins Schwarze Meer oder flussaufwärts in den grossen rumänischen Seehafen Konstanza. Russland kann Schiffe, die in Moldawien oder Rumänien abgelegt haben, nicht so blockieren wie jene, die in der Ukraine gestartet sind. Die Rumänen haben sogar die alten Gleise mit sowjetischer Spurweite rehabilitiert, so dass bald Züge zwischen Giugiulesti und Konstanza verkehren können. Die Ukraine und ihre Nachbarländer tun alles, um die russische Blockade zu umgehen. (bzbasel.ch)