Russen bei Pokrowsk eingekesselt – Lage im Überblick
Mitte August schlugen ukrainische Militärbeobachter Alarm: Den russischen Truppen sei ein tiefer Vorstoss östlich der Stadt Dobropillja in der Region Donezk gelungen. Die ukrainischen Verteidiger wirkten bereits angezählt, war doch der unverzichtbare Festungsgürtel des Donbass in Gefahr geraten. Anderthalb Monate später stellt sich die Situation anders dar.
Zwar räumte der ukrainische Armeechef Oleksandr Syrskyj kürzlich ein, dass die Lage an der Front «schwierig» sei und die russische Armee in wichtigen Gebieten weiter vorrücke. Doch unter anderem mithilfe von Elitetruppen ist es den Ukrainern laut Berichten gelungen, die russischen Eindringlinge bei Pokrowsk an drei Orten einzukreisen. In der weiterhin laufenden Gegenoffensive habe die ukrainische Armee mittlerweile 175 Quadratkilometer zurückerobert und weitere 195 Quadratkilometer von russischen Sabotagetrupps befreit, so Syrskyj.
Derweil bricht in der Ukraine langsam die berüchtigte, «Rasputiza» genannte Schlammperiode an. Unbefestigte Wege weichen durch anhaltende Regenfälle immer weiter auf, sodass man sich mit schwerem Gerät kaum fortbewegen kann. Hinzu kommen harscher Wind und ständig bewölkter Himmel, der aktuell Drohnenpiloten die Arbeit erschwert. Für die Ukraine kommen diese unwirtlichen Bedingungen womöglich gerade zur richtigen Zeit.
«Ihr eigentliches Ziel haben die Russen nicht erreicht»
Aktuell macht sich das bereits an deutlich verringerten Geländegewinnen auf russischer Seite bemerkbar. Wie das in der Regel gut informierte ukrainische Portal «DeepState» am Mittwoch notierte, eroberte Russland im September nur noch etwa halb so viel Territorium wie im Vormonat. Demnach gewann Russland gut 259 Quadratkilometer hinzu – die flächenmässig kleinsten Eroberungen seit Mai. Zum Vergleich: Frankfurt am Main hat eine Fläche von etwa 249 Quadratkilometern. Aktuell kontrollieren die russischen Truppen demnach insgesamt 19,04 Prozent des ukrainischen Territoriums.
Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer erkennt darin ein «Abflachen» der russischen Sommeroffensive. «Ihr eigentliches Ziel haben die Russen dabei nicht erreicht: Ihnen ist kein operativer Durchbruch zwischen Pokrowsk und Kostjantyniwka gelungen», erklärt der Militärexperte t-online. Die Rasputiza habe bislang noch nicht vollumfänglich eingesetzt, «sodass den russischen Truppen noch wenige Wochen bleiben, um mit einem zumindest symbolischen Erfolg eine Trophäe zu erzielen.»
Diese Frontabschnitte sind besonders umkämpft
Reisner identifiziert insgesamt sechs Frontabschnitte, auf denen derzeit die Schwerpunkte der Kampfhandlungen liegen:
- Kupjansk
- Lyman
- Siwersk
- Kostjantyniwka
- Pokrowsk
- Nowopawliwka
Der Militärexperte weist dabei insbesondere auf die Entwicklungen rund um Siwersk im Nordosten von Donezk hin. «Dieser Frontabschnitt wird derzeit wenig beachtet, ist jedoch von grosser Bedeutung», sagt Reisner. Siwersk stelle eine Art «Scharnier» zwischen dem Nord- und Südteil des mittleren Abschnitts der Ukraine-Front dar. «Wenn dieser Angriffspunkt fällt, müssten sich die ukrainischen Verteidiger weit zurückziehen», warnt Reisner.
Ein solcher Erfolg der Russen würde schwer wiegen, denn so könnten die beiden Festungsstädte Slowjansk und Kramatorsk von Osten aus in Reichweite der Kremltruppen geraten. Dabei erzielen sie laut Reisner bereits Fortschritte: «Vor Kurzem gelang es den Russen, weite Teile des Serebrjanka-Waldes nördlich von Siwersk in Besitz zu nehmen.»
Sind Russen bei Dobropillja eingekesselt?
Weniger deutlich gestaltet sich die Lage im westlichen Teil des Gebiets Donezk – dort, wo Russland im August ein tiefer Vorstoss gelungen ist. Sind die Berichte über Einkesselungen russischer Truppen bei Dobropillja wahr? Bestätigen könne er das aktuell nicht, erklärt Reisner. «Dazu fehlen Bilder sowie eine entsprechend grosse Zahl von Gefangennahmen in dem Gebiet.» Klar sei allerdings, dass die ukrainische Armee den Vorstoss der Russen abgeriegelt hat. Dort geht es für die Kremltruppen zumindest vorerst nicht weiter.
«Insgesamt ist das Lagebild unklar, denn in dem Gebiet gibt es mehrere Quadratkilometer Grauzone, in der keine Seite echte Kontrolle ausübt», erläutert der Militärexperte. «Stattdessen kämpfen Ukrainer wie Russen mit kleinen Einheiten um wenige Meter Gelände.» Reisner veranschaulicht die Situation an einem Beispiel: «Beide Parteien sind dort auf engstem Raum im Niemandsland ineinander verzahnt. Die Situation erinnert sehr an den Ersten Weltkrieg.» Auch die deutsche Armee setzte ab 1917 auf kleine Stosstrupps, um einzelne Frontabschnitte zu infiltrieren oder Versorgungslinien zu stören.
Eine eindeutige Einschätzung lässt sich also kaum abgeben, ebenso wenig eine Prognose über mögliche Vorteile auf einer Seite. «Sowohl Russland als auch die Ukraine setzen bei Dobropillja massiv Drohnen ein – für Angriffe, zur Aufklärung und zur Versorgung der eigenen Soldaten», sagt Reisner. «Wer am Ende die Oberhand behält, lässt sich aktuell kaum sagen. Sowohl die Ukrainer als auch die Russen haben Elitetrupps in die Region geschickt.»
Kritik an Führungskommando bei Pokrowsk
Ein Bericht der «Ukrainska Prawda» machte in der vergangenen Woche deutliche Kritik an der Führung der ukrainischen Armee im Raum Pokrowsk öffentlich. Besonders der Kommandeur der dortigen Einheiten, Oberst Maksym Martschenko, wird verantwortlich gemacht: Er soll Risiken in dem Gebiet verharmlost und sogar beobachtete Infiltrationen von Russen hinter die Reihen der ukrainischen Verteidiger ignoriert haben – wohl um der Armeeführung keine Negativberichte überbringen zu müssen.
Russland habe diese Lage auch dazu genutzt, eine Drohnenüberlegenheit bei Dobropillja herzustellen, berichtet die Zeitung. Versorgungsrouten nach Pokrowsk und dem benachbarten Myrnograd seien mit Fahrzeugen kaum mehr befahrbar. Soldaten müssten teils zwischen zehn und 25 Kilometer zu Fuss zurücklegen, um für Drohnen kein leichtes Ziel abzugeben.
Russland fährt rund um Pokrowsk dynamische Angriffe
Ähnlich gestaltet sich die Situation rund um die Stadt Pokrowsk. Seit etwa Mitte 2024 fährt Russland andauernde Angriffe auf die Stadt, mittlerweile mit dem Ziel, sie einzukreisen. Laut «DeepState» führte Russland im September rund ein Drittel aller seiner Angriffe hier aus. Gelungen ist die Einkesselung aber bisher nicht: «Rund um Pokrowsk halten die Ukrainer die Russen noch auf Distanz, wenn auch Sabotagetrupps bereits punktuell in den Süden der Stadt eindringen konnten.»
Russland setzt die Ukrainer jedoch weiter unter Druck. Dabei agieren die Kremltruppen laut Reisner überraschend agil. «Die Russen attackieren dort wie am Flipperautomat: Sie verlegen den Hauptfokus ihrer Angriffe immer wieder dynamisch.» Sobald die ukrainischen Verteidiger Verstärkung an heiss umkämpfte Stellungen schicken, stoppe Russland seine Angriffe dort und attackiere an anderer Stelle.
Möglich macht dies wohl auch das zahlenmässige Übergewicht der Russen. Ende August hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärt, dass Russland bis zu 100'000 Soldaten bei Pokrowsk zusammengezogen habe. Bei ihren andauernden Attacken erleiden die Russen laut Reisner zwar massive Verluste, «halten den Druck auf die Ukrainer jedoch aufrecht».
Elite-Drohnentruppe «Rubikon» setzt Ukraine unter Druck
Dies stellt für die Russen nicht nur im Raum Pokrowsk insbesondere die berüchtigte Elite-Drohnentruppe «Rubikon» sicher. Ukrainische Soldaten berichteten der «Ukrainska Prawda», dass die Einheit verstärkt ins Visier genommen werden müsse, wenn Kiews Truppen selbst wieder Druck aufbauen sollen. Sie forderten dabei auch den Einsatz von Fliegerbomben oder Himars-Raketen gegen Stellungen, von denen aus «Rubikon» seine Drohnen startet. Wegen Knappheit setzt die ukrainische Armee solche Waffen normalerweise gegen höherwertige Ziele ein.
Eine Verschnaufpause bietet womöglich das aktuell für den Drohneneinsatz schwierige Wetter mit starken Winden und bewölktem Himmel. Maksym Bakulin, Sprecher der 14. Brigade der Nationalgarde, erklärte in einem Video der ukrainischen Streitkräfte, Russland könne Drohnen so nicht effektiv einsetzen. Grössere Infanterieangriffe aber sind riskant für Russland: «Wir sehen, dass sie jeden Tag eine unglaubliche Anzahl an Soldaten verlieren.»