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Angriff auf Kursk: Was die Ukraine in Russland alles riskiert

A plate with sign "Kursk 108 km" is seen on the Russian-Ukrainian border in Sumy region, Ukraine, Tuesday, Aug. 13, 2024. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Ein Ortsschild an der ukrainisch-russischen Grenze zeigt: Kursk ist nur noch 108 Kilometer entfernt. Ukrainische Soldaten befinden sich aber neu weit hinter diesem Schild, auf russischem Boden.Bild: AP

Ukrainer rücken in Russland vor – und übernehmen sich damit womöglich

Vergangene Woche gelang es der Ukraine, russisches Territorium zu erobern. Seither kann sie es halten und teilweise sogar erweitern. Welche Strategie die Ukraine damit verfolgt und welche Risiken sie gleichzeitig eingeht, schätzt Militärexperte Markus Reisner ein.
14.08.2024, 05:0914.08.2024, 18:43
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Seit vergangener Woche spielt sich der Ukrainekrieg nicht mehr nur auf ukrainischem Gebiet ab. Am 6. August drangen ukrainische Truppen in die russische Region Kursk ein. Sie sollen weiter vorrücken, befestigte Stellungen einrichten, Schützengräben ausheben. Kurz: Sich darauf vorbereiten, länger in Russland zu verharren.

Die ukrainische Offensive überrascht. Allen voran wohl den Kreml. Wie der Gouverneur der Region Kursk in einer Videokonferenz am Montag zusammenfasste, kontrolliert die Ukraine 28 russische Siedlungen und ist zwölf Kilometer in russisches Territorium vorgedrungen. 120'000 Menschen habe man evakuieren müssen. Weiteren 60'000 Menschen in der Region stünde eine Evakuation noch bevor.

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Bilder von russischen Zivilistinnen und Zivilisten, die aus der Region Kursk evakuiert werden müssen, am 13. August 2024. Bild: keystone

Am Dienstagabend teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Telegram wiederum mit:

«Die Ukraine hat 74 Siedlungen unter ihrer Kontrolle.»

Trotz schwieriger und intensiver Kämpfe würde der Vormarsch seiner Truppen in der Region Kursk weitergeführt, hielt er ausserdem fest. Nach Angaben des ukrainischen Oberbefehlshabers Oleksandr Syrskyj hat die Ukraine die Kontrolle über etwa 1000 Quadratkilometer in Russland.

Welche Angaben stimmen, lässt sich nicht unabhängig prüfen. So oder so, wird die ukrainische Offensive aber grosse Auswirkungen auf den weiteren Kriegsverlauf haben. Manche davon sind bereits jetzt zu sehen.

«Kein Interesse an russischen Territorien»

Wie am Dienstag ein Sprecher des ukrainischen Aussenministeriums mitteilte, ist die Ukraine «nicht daran interessiert, Territorium in der Region Kursk zu erobern». Mit den Angriffen auf russischem Gebiet wolle man lediglich eine bessere Verhandlungsposition für Friedensgespräche mit Russland erzwingen.

Putin wirft der Ukraine hingegen vor, Russland destabilisieren zu wollen, um die russischen Truppen davon abzubringen, im Osten der Ukraine vorzurücken. Denn seit Beginn des Jahres hat die Ukraine vor allem im Osten zwar langsam, aber stetig Territorium an Russland verloren.

Beiden Seiten haben wohl ein bisschen Recht. Zu diesem Schluss kommt, wer Markus Reisner zuhört. Er ist Oberst des Generalstabsdienstes Österreichs und Militärhistoriker. Reisner sagt:

«Mittelfristig versucht die Ukraine, die russischen Kräfte aus dem Donbass zu verlagern und zu binden. So will sie das dortige Momentum der Russen brechen. Langfristig ist es hingegen das Ziel der Ukraine, die eigene Position auf dem Schlachtfeld zu verbessern, um so in eine günstigere Verhandlungsposition zu kommen.»
Markus Reisner, Militärhistoriker und Offizier

Ihr kurzfristiges Ziel hat die Ukraine gemäss Reisner mit ihrer Offensive bereits erreicht:

«Aus den Negativschlagzeilen zu kommen und die Moral der eigenen Bevölkerung zu stärken.»

Ein Sieg ohne tatsächlichen Gewinn

Die Lage im Osten der Ukraine spitze sich immer mehr zu. Russland ist im Begriff, an mehreren Fronten die Oberhand zu gewinnen und verleibt sich – in gemächlichem Tempo zwar – mehr und mehr ukrainisches Gebiet ein.

Die ukrainischen Truppen sind zudem nach zweieinhalb Jahren Krieg müde, haben hohe Verluste erlitten. Die internationale Gemeinschaft ist mit anderem beschäftigt. Mit der bevorstehenden Eskalation in Nahost etwa, falls Iran tatsächlich einen Grossangriff auf Israel startet.

Mit der überraschenden Offensive auf russischem Territorium sei der Ukraine etwas Entscheidendes gelungen:

«Ein klarer Sieg im Informationsraum.»

Die ganze Welt schaue jetzt nach Kursk. Dorthin, wo die Ukraine – anders als im eigenen Land – vorerst die Überhand hat. «Der Erfolg des Angriffs kommt für die Ukrainer also zu einem günstigen Zeitpunkt», sagt Reisner.

Markus Reisner, oberster Offizier des Generalstabsdienstes Österreichs und Militärhistoriker
Markus Reisner, oberster Offizier des Generalstabsdienstes Österreichs und Militärhistoriker.Bild: zvg

Für Russland hingegen sei die ukrainische Offensive eine Blamage:

«Der Krieg ist in Russland angekommen, Putin und seine Führung stehen unter Erklärungsnot. Die Bilder der Zerstörung in Kursk widersprechen dem russischen Narrativ, dass man sich nicht in einem Krieg befindet, sondern lediglich eine ‹Spezialoperation› läuft.»
Markus Reisner, Militärhistoriker und Offizier

Online verbreiteten sich Bilder und Videos von zerstörten russischen Kolonnen, von ukrainischen Soldaten, die russische Dörfer ein- und russische Soldaten gefangennehmen.

Statt russische Bomben zu sehen, die über dem Donbass-Gebiet in der Ostukraine abgeworfen werden, würden sich Videos von Gleitbomben, die in Kursk niedergehen, verbreiten.

Im Krieg kann ein Sieg im Informationsraum durchaus auch zu einem Sieg auf dem Schlachtfeld führen, so Reisner. Er zieht einen Vergleich zu den Kämpfen rund um Charkiw im Herbst 2022:

«Damals dachten die russischen Soldaten, sie sind dabei, von den ukrainischen Truppen überflügelt zu werden. Sie sind in Panik geflohen.»

Tatsächliche militärische Erfolge könnte ein Sieg im Informationsraum jedoch nur innerhalb der ersten 72 Stunden liefern. Zumindest bei einem Überraschungsangriff wie diesem. «Dieses Zeitfenster ist nun abgelaufen.» Und die Ukraine hat keines der eigenen Gebiete im Osten zurückerobern können.

Brand von AKW Saporischschja war wohl Kalkül

Eine Rolle beim Informationskrieg hat auch der Brand im AKW Saporischschja gespielt. Putin beschuldigte die Ukraine, das Kraftwerk mit Drohnen beschossen zu haben. Selenskyj widersprach umgehend und warf Russland vor, Reifen im Inneren des Kraftwerks in Brand gesetzt zu haben.

Wieder ist es nicht möglich, unabhängig zu prüfen, welche Erklärung stimmt. Reisners Vermutung: Russland könnte versucht haben, den Blick der internationalen Medien von Kursk weg und zurück auf die Ostukraine, wo Russland an Territorien gewinnt, zu führen. Denn kurze Zeit dominierte das Bild des AKWs, von dessen Kühltürmen schwarzer Rauch emporstieg. Reisner sagt:

«Für die Medien hat eine mögliche nukleare Katastrophe natürlich höhere Bedeutung als der Vormarsch der Ukrainer an der neuen Front bei Kursk.»
Markus Reisner, Militärhistoriker und Offizier

Einen Strich durch die Rechnung machten dem Kreml dann wohl die Beobachter der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), die in Saporischschja vor Ort sind. Bereits am Sonntag gaben sie Entwarnung: «Es gibt im Moment keine Auswirkungen auf die nukleare Sicherheit.» Der Brand im Kühlturm des AKWs konnte vollständig gelöscht werden, erhöhte Strahlung wurde in der Umgebung nicht festgestellt.

Kollektives Aufatmen in der (westlichen) Welt. Saporischschja war rasch wieder vergessen. Stattdessen schaut man wieder nach Russland. Genauer: Nach Kursk, wo die Ukraine weitere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen kann, wie sie am Dienstagabend erneut bekräftigte.

Damit reitet die Ukraine weiterhin auf einer Erfolgswelle mit ihrer Kursker Offensive. Die Frage ist nur, wie lange noch?

Alles hängt davon ab, wo Russland Truppen abzieht

Damit die ukrainische Strategie, sich eine bessere Verhandlungsposition zu erkämpfen und russische Truppen aus der Ostukraine nach Russland zu locken, aufgeht, muss sie das eingenommene russische Territorium jetzt so gut wie möglich halten, so Reisner. Also dem russischen Druck an mehreren Fronten standhalten können. Damit gehe ein grosses Risiko einher.

Die Ukraine könnte kostbare Reserven, die eigentlich zur eigenen Verteidigung, etwa im Donbass, gebraucht würden, in Kursk verheizen. Soldaten, Geräte, Waffen, Munition.

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Kann dank der Offensive in Kursk nach Langem wieder positive Nachrichten verbreiten: Präsident Wolodymyr Selenskyj.Bild: EPA

Für Reisner ist klar:

«Putin wird keine ukrainischen Truppen in Russland dulden und er wird versuchen, seine Blamage auszumerzen.»

Es sei jetzt schon zu beobachten, wie die russischen Truppen ihre Angriffe in der Ostukraine intensivieren. Und in Kursk würden sie Luftangriffe auf die ukrainischen Truppen starten, die noch dabei seien, ihre Verteidigungsstellungen einzurichten. Seit Samstag sei zudem zu beobachten, wie sich russische Streitkräfte in Richtung der ukrainischen Truppen in Kursk vorschieben.

Die entscheidende Frage für den weiteren Verlauf des Krieges sei deshalb: Woher wird Russland seine Kräfte nehmen, um die ukrainischen Truppen in Kursk zu vertreiben?

Russian President Vladimir Putin leads the meeting with top security and defence officials dedicated to the situation in Kursk and Belgorod border regions, at Novo-Ogaryovo state residence outside of  ...
Wladimir Putin spricht gegenüber dem russischen Volk, auch nachdem die Ukraine erfolgreich russische Gebiete erobern konnte, nicht von einem Krieg.Bild: keystone

Die Fahrzeuge, mit denen sich die russischen Soldaten den ukrainischen Truppen in Kursk nähern, ordnet Reisner der operativen Gruppierung «SEVER» zu. Das zeige, dass Russland seine Kräfte bisher erst aus dem Raum nördlich von Charkiw abgezogen habe.

«Geht das Kalkül der Ukrainer in den nächsten Tagen und Wochen nicht auf, steht das Land vor dem Dilemma, ab sofort eine noch längere Front versorgen zu müssen», so Reisner. Russland habe gemäss Aussagen des ukrainischen Generalstabs bis Ende des Jahres bis zu 700'000 Mann verfügbar. Damit könne der Kreml seinen Abnützungskrieg in der Ukraine, trotz der Blamage von Kursk, weiterführen.

«Im schlimmsten Fall hat sich die Ukraine mit ihrer Offensive bei Kursk überdehnt.»

Oder anders formuliert: Die Ukrainer könnten sich mit der Kursk-Offensive mittelfristig verkalkuliert haben.

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239 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Eidg. dipl. Kommentarspalter
14.08.2024 05:55registriert Dezember 2015
Was für eine Schlussfolgerung. Da macht es sich jemand aus dem feudalen Sessel bequem, die Ukrainer für ihren Mut zu tadeln. Gestandene Militärspezialisten, welche nun der zweitgrössten Armee der Welt seit fast drei Jahren die Stirn bieten, unterstützt mit Intel von der grössten Armee der Welt, beschliessen einen Überraschungsangriff, was mit den heutigen Aufklärungsmöglichkeiten eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Es gelingt und Putin ist baff.

Eine verrückte Wahnsinnsleistung ist das. Aber eben auch eine kalkulierte. Wir werden sehen.

Und ja: Die Schweiz schaut weiterhin zu...
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Cheese17
14.08.2024 06:08registriert Juli 2024
Es ist und bleibt spannend. Ich trauere immernoch dem Moment nach als die Ukraine in die Offensive kam und der Westen einfach nicht genug geliefert hat. Alles gute der Ukraine.
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Hanibald
14.08.2024 06:07registriert Dezember 2019
Russland hat ein Logistikproblem und kann Truppen nicht rasch verschieben. Nun spielt Ukraine Hase und Igel mit Russland.
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