Seit vergangener Woche spielt sich der Ukrainekrieg nicht mehr nur auf ukrainischem Gebiet ab. Am 6. August drangen ukrainische Truppen in die russische Region Kursk ein. Sie sollen weiter vorrücken, befestigte Stellungen einrichten, Schützengräben ausheben. Kurz: Sich darauf vorbereiten, länger in Russland zu verharren.
NEW: Ukrainian forces appear to be advancing further within Kursk Oblast despite recent milblogger claims that Russian forces were stabilizing the frontline in Kursk Oblast.
— Institute for the Study of War (@TheStudyofWar) August 13, 2024
Kursk Tactical Update 🧵(1/12) pic.twitter.com/3cVRXOw3oG
Die ukrainische Offensive überrascht. Allen voran wohl den Kreml. Wie der Gouverneur der Region Kursk in einer Videokonferenz am Montag zusammenfasste, kontrolliert die Ukraine 28 russische Siedlungen und ist zwölf Kilometer in russisches Territorium vorgedrungen. 120'000 Menschen habe man evakuieren müssen. Weiteren 60'000 Menschen in der Region stünde eine Evakuation noch bevor.
Am Dienstagabend teilte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auf Telegram wiederum mit:
Trotz schwieriger und intensiver Kämpfe würde der Vormarsch seiner Truppen in der Region Kursk weitergeführt, hielt er ausserdem fest. Nach Angaben des ukrainischen Oberbefehlshabers Oleksandr Syrskyj hat die Ukraine die Kontrolle über etwa 1000 Quadratkilometer in Russland.
Welche Angaben stimmen, lässt sich nicht unabhängig prüfen. So oder so, wird die ukrainische Offensive aber grosse Auswirkungen auf den weiteren Kriegsverlauf haben. Manche davon sind bereits jetzt zu sehen.
Wie am Dienstag ein Sprecher des ukrainischen Aussenministeriums mitteilte, ist die Ukraine «nicht daran interessiert, Territorium in der Region Kursk zu erobern». Mit den Angriffen auf russischem Gebiet wolle man lediglich eine bessere Verhandlungsposition für Friedensgespräche mit Russland erzwingen.
Putin wirft der Ukraine hingegen vor, Russland destabilisieren zu wollen, um die russischen Truppen davon abzubringen, im Osten der Ukraine vorzurücken. Denn seit Beginn des Jahres hat die Ukraine vor allem im Osten zwar langsam, aber stetig Territorium an Russland verloren.
Beiden Seiten haben wohl ein bisschen Recht. Zu diesem Schluss kommt, wer Markus Reisner zuhört. Er ist Oberst des Generalstabsdienstes Österreichs und Militärhistoriker. Reisner sagt:
Ihr kurzfristiges Ziel hat die Ukraine gemäss Reisner mit ihrer Offensive bereits erreicht:
Die Lage im Osten der Ukraine spitze sich immer mehr zu. Russland ist im Begriff, an mehreren Fronten die Oberhand zu gewinnen und verleibt sich – in gemächlichem Tempo zwar – mehr und mehr ukrainisches Gebiet ein.
Die ukrainischen Truppen sind zudem nach zweieinhalb Jahren Krieg müde, haben hohe Verluste erlitten. Die internationale Gemeinschaft ist mit anderem beschäftigt. Mit der bevorstehenden Eskalation in Nahost etwa, falls Iran tatsächlich einen Grossangriff auf Israel startet.
Mit der überraschenden Offensive auf russischem Territorium sei der Ukraine etwas Entscheidendes gelungen:
Die ganze Welt schaue jetzt nach Kursk. Dorthin, wo die Ukraine – anders als im eigenen Land – vorerst die Überhand hat. «Der Erfolg des Angriffs kommt für die Ukrainer also zu einem günstigen Zeitpunkt», sagt Reisner.
Für Russland hingegen sei die ukrainische Offensive eine Blamage:
Online verbreiteten sich Bilder und Videos von zerstörten russischen Kolonnen, von ukrainischen Soldaten, die russische Dörfer ein- und russische Soldaten gefangennehmen.
⚡️Another captured 🇷🇺Russian conscripts in the Kursk region pic.twitter.com/GJViRx2Ey0
— 🪖MilitaryNewsUA🇺🇦 (@front_ukrainian) August 13, 2024
Statt russische Bomben zu sehen, die über dem Donbass-Gebiet in der Ostukraine abgeworfen werden, würden sich Videos von Gleitbomben, die in Kursk niedergehen, verbreiten.
Im Krieg kann ein Sieg im Informationsraum durchaus auch zu einem Sieg auf dem Schlachtfeld führen, so Reisner. Er zieht einen Vergleich zu den Kämpfen rund um Charkiw im Herbst 2022:
Meanwhile in #Kursk oblast, Ukrainian soldiers are reviewing Russian restaurants on Google. Here's a cafe in #Sudzha: pic.twitter.com/nrF44w3zXg
— Matt Austin 🇺🇦 (@Iammattaustin) August 13, 2024
Tatsächliche militärische Erfolge könnte ein Sieg im Informationsraum jedoch nur innerhalb der ersten 72 Stunden liefern. Zumindest bei einem Überraschungsangriff wie diesem. «Dieses Zeitfenster ist nun abgelaufen.» Und die Ukraine hat keines der eigenen Gebiete im Osten zurückerobern können.
Eine Rolle beim Informationskrieg hat auch der Brand im AKW Saporischschja gespielt. Putin beschuldigte die Ukraine, das Kraftwerk mit Drohnen beschossen zu haben. Selenskyj widersprach umgehend und warf Russland vor, Reifen im Inneren des Kraftwerks in Brand gesetzt zu haben.
Wieder ist es nicht möglich, unabhängig zu prüfen, welche Erklärung stimmt. Reisners Vermutung: Russland könnte versucht haben, den Blick der internationalen Medien von Kursk weg und zurück auf die Ostukraine, wo Russland an Territorien gewinnt, zu führen. Denn kurze Zeit dominierte das Bild des AKWs, von dessen Kühltürmen schwarzer Rauch emporstieg. Reisner sagt:
Einen Strich durch die Rechnung machten dem Kreml dann wohl die Beobachter der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), die in Saporischschja vor Ort sind. Bereits am Sonntag gaben sie Entwarnung: «Es gibt im Moment keine Auswirkungen auf die nukleare Sicherheit.» Der Brand im Kühlturm des AKWs konnte vollständig gelöscht werden, erhöhte Strahlung wurde in der Umgebung nicht festgestellt.
Kollektives Aufatmen in der (westlichen) Welt. Saporischschja war rasch wieder vergessen. Stattdessen schaut man wieder nach Russland. Genauer: Nach Kursk, wo die Ukraine weitere Gebiete unter ihre Kontrolle bringen kann, wie sie am Dienstagabend erneut bekräftigte.
Damit reitet die Ukraine weiterhin auf einer Erfolgswelle mit ihrer Kursker Offensive. Die Frage ist nur, wie lange noch?
Damit die ukrainische Strategie, sich eine bessere Verhandlungsposition zu erkämpfen und russische Truppen aus der Ostukraine nach Russland zu locken, aufgeht, muss sie das eingenommene russische Territorium jetzt so gut wie möglich halten, so Reisner. Also dem russischen Druck an mehreren Fronten standhalten können. Damit gehe ein grosses Risiko einher.
Die Ukraine könnte kostbare Reserven, die eigentlich zur eigenen Verteidigung, etwa im Donbass, gebraucht würden, in Kursk verheizen. Soldaten, Geräte, Waffen, Munition.
Für Reisner ist klar:
Es sei jetzt schon zu beobachten, wie die russischen Truppen ihre Angriffe in der Ostukraine intensivieren. Und in Kursk würden sie Luftangriffe auf die ukrainischen Truppen starten, die noch dabei seien, ihre Verteidigungsstellungen einzurichten. Seit Samstag sei zudem zu beobachten, wie sich russische Streitkräfte in Richtung der ukrainischen Truppen in Kursk vorschieben.
Die entscheidende Frage für den weiteren Verlauf des Krieges sei deshalb: Woher wird Russland seine Kräfte nehmen, um die ukrainischen Truppen in Kursk zu vertreiben?
Die Fahrzeuge, mit denen sich die russischen Soldaten den ukrainischen Truppen in Kursk nähern, ordnet Reisner der operativen Gruppierung «SEVER» zu. Das zeige, dass Russland seine Kräfte bisher erst aus dem Raum nördlich von Charkiw abgezogen habe.
«Geht das Kalkül der Ukrainer in den nächsten Tagen und Wochen nicht auf, steht das Land vor dem Dilemma, ab sofort eine noch längere Front versorgen zu müssen», so Reisner. Russland habe gemäss Aussagen des ukrainischen Generalstabs bis Ende des Jahres bis zu 700'000 Mann verfügbar. Damit könne der Kreml seinen Abnützungskrieg in der Ukraine, trotz der Blamage von Kursk, weiterführen.
Oder anders formuliert: Die Ukrainer könnten sich mit der Kursk-Offensive mittelfristig verkalkuliert haben.
Eine verrückte Wahnsinnsleistung ist das. Aber eben auch eine kalkulierte. Wir werden sehen.
Und ja: Die Schweiz schaut weiterhin zu...
Schaut euch die Landkarte an. Der Weg von einer Front im Nordosten zur Front im Osten ist für die Ukraine 4 x kürzer.
Und jetzt greifen die Sanktionen. Russlands Eisenbahn steht vor dem Kollaps. Russland hat seine Achilessehne offenbart. Das einzig Richtige, was die Ukraine machen konnte.