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Lyudmila Narusova: «4 von 100 russischen Soldaten am Leben»

Video: youtube/Совет Федерации

«4 von 100 Soldaten am Leben»: Putin bekommt Stress an der Heimatfront

Lyudmila Narusova, politische Gotte von Putin, hat einen parlamentarischen Coup gelandet: Sie erzwang ein Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit mit einer Geschichte über 96 verstorbene russische Soldaten.
04.03.2022, 20:5606.03.2022, 14:14
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Ja, auch in Russland gibt es noch so etwas wie eine politische Opposition. Eine der wenigen Kreml-kritischen Stimmen ist die 70-jährige Lyudmila Narusova: Sie blieb als Parlamentarierin der Abstimmung über den Kriegseinmarsch Russlands fern. Am Freitag gab sie zudem eine Ansprache in einer Sitzung des Föderationsrates, in der sie öffentlich über gefallene russische Soldaten spricht.

Narusova ist dabei nicht (bloss) irgendeine Hinterbänklerin einer kleinen russischen Randregion: Sie ist die Witwe vom ersten Bürgermeister von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak, der als politischer Ziehvater von Präsident Wladimir Putin gilt. Als politische Gotte haben ihre Worte zumindest symbolisches Gewicht. Diese lieferte sie am Freitag.

Das Video ihrer Rede kursiert seither im Internet und wurde bereits tausendfach verbreitet. Wir zeigen hier die Hintergründe und was sie genau sagte.

Was hat sie gesagt?

Das Video von Lyudmila Narusova zeigt eine Kommissionssitzung des russischen Föderationsrates (vergleichbar mit dem Schweizer Ständerat), auf der Traktandenliste stand das Fake-News-Gesetz, mit dem angebliche Falschinformationen über russische Streitkräfte mit sehr hohen Geld- und Freiheitsstrafen verfolgt werden sollten. Im Ausland wird diese Gesetzesänderung als Zensurversuch kritisiert.

Narusova stellte während der Sitzung die rhetorische Frage, wer denn «die Beweislast für die Glaubwürdigkeit» von angeblichen Falschinformationen trage. Sie lieferte daraufhin ein Beispiel für ihre Skepsis:

«Gestern wurden Wehrpflichtige aus dem Kampfgebiet abgezogen. Das Dokument dafür mussten sie selbst unterzeichnen – oder es wurde für sie unterzeichnet. Am Ende blieben von einer Kompanie von 100 Mann nur gerade vier am Leben.»
Lyudmila Narusova.Ansprache im Föderationsrat, frei übersetzt

Diese Worte verbreiten sich derzeit wie ein Lauffeuer durch die sozialen Medien und sollen aufzeigen, welch «enorme Verluste» die russische Armee in der Ukraine verzeichnete. Das ist aber nicht die ganze Geschichte hinter dem Video: Narusova nutzte diese Worte, um die Absurdität des Fake-News-Gesetzes aufzuzeigen.

Sie habe nämlich am selben Tag beim russischen Militär angerufen und eine Bestätigung dieser Information gefordert. Sie erzählt daraufhin weiter:

«Sie haben mich beschuldigt, ich würde die Armee verunglimpfen und unzuverlässige Informationen verbreiten. Aber ein Militärministerium, das sich weigert zu bestätigen, ob etwas glaubwürdig ist oder nicht – wie kann so etwas passieren?»
Lyudmila Narusova.ansprache im föderationsrat, frei übersetzt

Kommissionspräsident und quasi Putins Parteifreund Andrej Klischas unterbrach sie mit der Bemerkung, dass das eine «andere Frage sei». Als Narusova nicht lockerliess, erklärte Klischas daraufhin die rechtsstaatlichen Prinzipien: Der Staat stehe in der Beweislast, Ermittler müssten Beweise liefern, Staatsanwaltschaften würden diese prüfen und über eine Anklage entscheiden. Am Ende würde es dann zu einem Gerichtsverfahren kommen, wo nach einem «kontradiktorischen Prozess» ein Urteil gefällt werde.

Narusova sagte daraufhin spitzfindig und wohl nicht ohne Hintergedanken: «Genau das wollte ich hören.»

Der Ausschnitt von Narusovas Rede

Video: youtube/Совет Федерации
Putin unterzeichnet Gesetze zur Einschränkung der Meinungsfreiheit
Der russische Präsident Wladimir Putin hat mehrere Gesetze zur weiteren Einschränkung der freien Meinungsäusserung im Land unterzeichnet. Mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden kann nach einem am Freitag im Parlament verabschiedeten Gesetz, wer «Falschinformationen» über die aktuell im Krieg in der Ukraine kämpfenden russischen Streitkräfte verbreitet. (sda/dpa)

Warum ist das so wichtig?

Narusova wollte oder konnte zumindest nicht faktisch aufzeigen, dass 96 Soldaten gestorben seien. Ihre Geschichte mit den «unterschriebenen Dokumenten» diente als Beispiel, dessen Glaubwürdigkeit wir nicht überprüfen können. Bestätigte und unabhängige Informationen gibt es dazu ohnehin nicht: Russland gab bislang lediglich 498 gefallene Armeeangehörige zu. Die Ukraine behauptet, dass über 10'000 russische Soldaten gestorben seien.

Mit ihrem Auftritt sorgte sie aber dafür, dass im Parlamentsprotokoll, in russischen Medien und auf offiziellen Kanälen klar gemacht wurde: Wenn Russland die Fake-News-Strafnormen zur Zensur verwenden will, wird die Justiz nach rechtsstaatlichen Normen arbeiten und die Schuld beweisen müssen. Ansonsten begeht die russische Führung Wortbruch.

Korrekturhinweis
Lyudmila Narusova hat nicht gegen den Einmarsch Russlands in der Ukraine gestimmt, wie es in einer ersten Version des Artikels hiess. Der Fehler stützte sich auf Berichte russischer Medien, dass «drei sibirische Politiker» den Truppeneinsatz abgelehnt hätten. Das ist falsch: Narusova fehlte bei der Abstimmung, wie das offizielle Abstimmungsprotokoll zeigt (einstimmiges «Ja» ohne Gegenstimmen). Zur Einordnung: Die Abstimmung in der Staatsduma, der zweiten Parlamentskammer, fiel differenzierter aus. Wir haben den Fehler berichtigt und bitten um Entschuldigung. (pit)

Verwendete Quellen

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72 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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olmabrotwurschtmitbürli #wurstkäseszenario
04.03.2022 21:10registriert Juni 2017
Ich glaube, diese Frau ist sehr intelligent.
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Liebu
04.03.2022 21:29registriert Oktober 2020
Clever Frau und dazu die Wittwe seines Ziehvaters. Das wird Putin schmerzen.

Aber eigentlich ist dieses Gesetz sowieso ein Witz. Denn die, die die meisten Fake News verbreiten, sind Putin, seine Helfer und die Propaganda.
Eigentlich haben sie sich selber15 Jahre Haft auferlegt. Aber eben, ob Fake oder nicht, liegt im Auge des Betrachters.
Kennen wir von fast allen Grossmächten.
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Jo Kaj
04.03.2022 21:31registriert Juli 2019
Starke Aktion, sehr mutig! Mögen mehr Menschen wie sie diese Mut aufbringen.
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