Seit Putin am 24. Februar die Ukraine angegriffen hat, schaut die Welt mit Entsetzen Richtung Ukraine. Die Berichte über mutmassliche Kriegsverbrechen türmen sich fast seit Tag eins des Krieges.
Nun wurde der erste Prozess in der Ukraine abgehalten, bei dem ein russischer Kriegsverbrecher verurteilt wurde: Wadim S. ist ein Kriegsverbrecher und ein Mörder.
Das ist die Geschichte von Wadim S. – und seine mögliche Zukunft:
Am 18. Mai gab die Mutter des 21-jährigen Russen Wadim S. dem unabhängigen, kremlkritischen Newsportal Meduza ein Interview. Sie zeichnete dabei ein Bild eines jungen Mannes, der ein unbescholtenes Leben führte, bis zu dem Tag, als er zum Mörder wurde:
Wadim wächst als ältestes von fünf Kindern in der Region Irkutsk in Sibirien bei seiner Mutter und dem Stiefvater auf. Mit dem leiblichen Vater hat er sporadisch Kontakt. Nach einer Berufsausbildung zieht Wadim nach Moskau, um dort in einem Reifengeschäft zu arbeiten. Wadim hat eine Freundin, mit der er sogar einmal in die Ferien fährt, wie seine Mutter sagt.
Im Januar 2020 wird sein Stiefvater wohl versehentlich erschossen, Wadim fühlt sich für die Familie verantwortlich, obwohl die Mutter ihn nicht um Geld bittet, wie sie sagt. Wadim ist zu diesem Zeitpunkt 19 oder 20 Jahre alt.
Kurz nach dem Tod des Stiefvaters tritt Wadim der Armee bei als Kontraktniki. Kontraktniki sind auf kurze Zeit verpflichtete Berufssoldaten. Seine Familie ist dagegen, dass er den Vertrag mit der Armee unterschreibt. Seine Mutter sagt im Interview, sie habe sich gewünscht, dass ihr Sohn eine höhere Ausbildung mache: «Geh studieren, ich bezahle dir ein Jahr. So hast du Zeit, für das nächste Studienjahr zu sparen», habe sie ihrem Sohn vorgeschlagen.
Wadims Mutter erzählt weiter, dass sie lange gar nicht gewusst habe, dass es überhaupt Krieg gebe in der Ukraine, denn sie schaue keine Nachrichten mehr seit dem Tod ihres Mannes. Wadim habe auch nicht erzählt, dass er in den Krieg ziehen werde – wahrscheinlich um ihr Sorgen zu ersparen. Sie sei sich auch gar nicht sicher, ob Wadim überhaupt wusste, dass er in der Ukraine in einem Krieg kämpfen müsse.
Dass es einen Krieg gibt in der Ukraine, erfährt die Mutter am 01. März. Denn die Freundin Wadims zeigt ihr ein Video, in dem ihr Sohn zu sehen ist: vorgeführt als Kriegsgefangener in der Ukraine. Obwohl das Vorführen von Häftlingen im Krieg laut dem Genfer Abkommen ein Kriegsverbrechen ist, zeigt sich die Mutter im Interview froh über das Video, das die Ukrainer von ihrem Sohn gemacht haben: «Sonst hätte ich nie erfahren, wo mein Kind ist – lebendig oder tot.»
In der Folge schreibt Wadims Mutter einen Brief an den russischen Präsidenten Wladimir Putin – sie will Antworten über den Krieg und über das Befinden ihres Kindes. Doch eine Antwort hat sie bis heute nicht bekommen. Immerhin hätten die russische Regierung und die Armee aber zugegeben, dass sich Wadim in der Ukraine befinde und den Status eines Gefangenen habe.
Am 13. März darf Wadim seine Familie anrufen: «Mama, alles ist in Ordnung. Keine Sorge», sagt er dabei. Ein paar Tage später können die beiden noch einmal telefonieren im Rahmen eines auf Video aufgezeichneten Gesprächs, das ein ukrainischer Journalist und Aktivist, Wolodymyr Zolkin, mit Wadim führt.
Die letzte Frage im Interview von Meduza mit Wadims Mutter ist: «Was denken Sie über den Krieg?» Die Mutter Wadims hat eine klare Meinung: «Nur Negatives. Es tut mir sowohl für uns als auch für die Ukrainer leid. Es sterben genau die gleichen auf beiden Seiten: jemandes Ehemann, jemandes Sohn. (...) Ich weiss nicht, warum jemand will, dass so viele Menschen sterben.»
Der Prozess gegen Wadim S. erregte internationales Aufsehen. Am 11. Mai machte die Generalstaatsanwältin der Ukraine, Irina Wenediktowa, auf Facebook bekannt, dass eine Anklageschrift im Fall des russischen Truppenführers in der 4. Panzer-Division Kantemirowskaya in der Region Moskau, Wadim S., vorliege. Ihm werde vorsätzlicher Mord an einem Zivilisten vorgeworfen – er habe also nach dem ukrainischen Strafgesetzbuch die Kriegsgesetze verletzt.
Sein Verteidiger Wiktor Owsjannikow plädierte auf Freispruch. Er sagte: «Er hat nur einen Befehl ausgeführt, wenngleich es ein verbrecherischer Befehl war.» (Mehr zur eigentlichen Tat gibt es weiter unten.)
Die Staatsanwaltschaft liess das Argument Owsjannikows nicht gelten. Darum folgte ein tagelanger Prozess in einem Kiewer Gerichtssaal. Wadim S. trug dabei einen blau-grauen Gefängnis-Trainingsanzug und hatte im Gegensatz zu den ersten Aufnahmen von ihm, die ihn als Kriegsgefangenen zeigten, einen fast kahl geschorenen Kopf. Während des ganzen Prozesses sass er in einer Glaskabine. Durch eine schmale Öffnung in seiner Kabine wurde ihm der Prozess übersetzt, da dieser auf Ukrainisch stattfand.
Bilder zeigen, wie der Soldat während der Zeugenaussagen mit hinter dem Rücken verschränkten Händen und gesenktem Kopf dastand. Es traten mehrere Zeugen auf, darunter auch die Ehefrau des Opfers von Wadim S.
Wadim S. bekannte sich des Mordes an einem unbewaffneten Zivilisten schuldig und wurde zu lebenslanger Haft verurteilt.
Bei der Urteilsverkündung am Montag sagte der Vorsitzende Richter, dass Wadim S. sehr wohl gewusst habe, dass es sich bei seinem Opfer um einen Zivilisten handelte. Darum hätte er den «kriminellen Befehl» nicht ausführen müssen.
Das Urteil wird in 30 Tagen rechtskräftig und kann innerhalb dieses Zeitraums angefochten werden. Wadim S. wird bis dahin in Haft bleiben.
Das Urteil könnte ein Präzedenzfall sein für eine Reihe weiterer Anklagen wegen mutmasslicher Gräueltaten der russischen Streitkräfte in der Ukraine. Denn die Ukraine hat massive Anstrengungen unternommen, um mutmassliche Kriegsverbrechen auf ihrem Territorium strafrechtlich zu verfolgen. Wenediktowa hat erklärt, dass alleine in diesem Monat 40 Kriegsverbrechen-Verdächtige identifiziert worden seien.
Der Internationale Strafgerichtshof sowie die Vereinten Nationen haben separate Untersuchungen eingeleitet.
Wadim S. erzählte das Geschehen während des Verhörs und der Gerichtsverhandlung. Dabei stritt er nie ab, einen Menschen erschossen zu haben.
Der unbewaffnete Zivilist, den der nun verurteilte Russe erschoss, hiess Alexander Schelipow. Schelipow war ein 63-jähriger Rentner, Ehemann, Vater und Grossvater.
Ende Februar war Schelipow in dem Dorf Tschupachiwka im Gebiet Sumy im Nordosten der Ukraine mit seinem Fahrrad unterwegs, als Wadim S. ihn mit einem Kalaschnikow-Sturmgewehr erschoss, das hat die Beweisaufnahme ergeben. Die Witwe des Ermordeten, Kateryna Schelipowa, fand ihren Mann später leblos auf der Strasse – getötet hatte ihn wohl eine Kugel im Kopf. Vor Gericht sagte Schelipowa: «Er war für mich alles. Er war mein Beschützer.»
Laut Wadim S. fand der Mord während der ersten Tage der russischen Invasion in der Ukraine statt. Seine Einheit rückte damals in die Stadt Sumy vor, «um das ukrainische Volk einzuschüchtern» – so habe es das Militär selbst formuliert, sagte Wadim S. in einem Auszug des Verhörs, das am 4. Mai veröffentlicht wurde.
Am 28. Februar sei der Konvoi aber unter Beschuss geraten. Seine Kameraden und er hätten darum ein Privatauto geklaut, um dem sich zurückziehenden Konvoi zu folgen. In der Ortschaft Tschupachiwka hielten die Russen an – und trafen auf den Anwohner Alexander Schelipow, der mit jemandem telefonierte. Im Glauben, der Ukrainer sei gerade im Begriff, ihre Stellung dem ukrainischen Militär zu melden, sei der Befehl erteilt worden, Schelipow zu töten.
Laut Wadim S. habe der Kommandant ihm den Befehl gegeben, auf Schelipow zu schiessen: «Dort war ein Mann, der per Telefon redete. Fähnrich Makejew befahl zu schiessen», sagte Wadim S. vor Gericht. Und weiter: Makejew habe ihn angeschrien. Trotzdem habe er den Befehl seines Vorgesetzten zunächst nicht befolgt.
Ein anderer Offizier habe den Befehl daraufhin wiederholt, darum habe er dann eine Salve aus seinem Sturmgewehr aus dem Autofenster heraus abgegeben – und Schelipow sei tot umgefallen.
Am nächsten Tag begab sich Wadim S. selbst in Gefangenschaft. Er habe leben und «nicht kämpfen» wollen, so der 21-Jährige.
Ein weiterer Russe, der sich mit Wadim S. zusammen in Gefangenschaft begeben hatte, bestätigte vor Gericht diese Version. Er ergänzte zudem, dass der Befehlsgeber Makejew etwa 30 Jahre alt gewesen sei und dass ihnen erzählt worden sei, dass er inzwischen nicht mehr lebe.
In seinem Schlusswort zeigte Wadim S. Reue: «Ich bedauere es. Ich bereue es sehr. Ich habe mich nicht geweigert, und ich bin bereit, alle Massnahmen zu akzeptieren, die verhängt werden.»
Die Ukrainer führten Wadim S. in den vergangenen Tagen der Weltöffentlichkeit vor. Sein Gesicht ging um die Welt. «Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hat wahrscheinlich bewusst einen relativ klaren Mordfall komplexeren Fällen vorgezogen», sagt Marcel Berni von der Militärakademie der ETH Zürich gegenüber watson.
«Es geht ihr darum, anhand eines verständlichen Einzelschicksals aufzuzeigen, dass die Ukraine als Rechtsstaat gemäss eigenem Strafrecht, das auf das humanitäre Völkerrecht referenziert, Kriegsverbrechen auf dem eigenen Gebiet nicht toleriert und juristisch verfolgt.» Die ukrainische Generalstaatsanwaltschaft hoffe wahrscheinlich, dass der Prozess andere russische Soldaten abschrecke. Das Gericht habe wohl unter gesellschaftlichem und situativen Druck gestanden, «eine hohe Strafe zu verhängen».
Berni bezeichnet das beinahe öffentliche Verfahren als «heikel», da es «die persönliche Würde des Gefangenen tangieren könnte». «Gemäss Artikel 3 der dritten Genfer Konvention ist eine ‹erniedrigende und entwürdigende› Behandlung von Kriegsgefangenen verboten», erklärt Berni. «Wenn nun also der Angeklagte in einem käfigartigen Gehäuse der Weltöffentlichkeit vorgeführt wird, so ist das problematisch.» Berni meint: «Solche Verfahrensmängel könnte der Angeklagte natürlich anfechten und einen Schuldspruch vor höheren Instanzen beanstanden.»
Und kann jemand wirklich verurteilt werden, obschon er nur einen Befehl ausführte? «Das ist die klassische Entschuldigung angeklagter Kriegsverbrecher», sagt Berni. «Jeder Soldat hat aber nebst Rechten auch Pflichten. Dazu gehört die Verweigerung illegaler Befehle. Die Ermordung eines Zivilisten ist ganz klar ein Kriegsverbrechen. Im Idealfall hätte Wadim S. folglich auf die Illegalität eines solchen Befehls verwiesen und ihn verweigert.» Damit würden aber relativ hohe Ansprüche an die militärjuristische Ausbildung der Soldaten gestellt, gibt Berni zu bedenken. «Ich bin mir nicht sicher, ob solche völkerrechtliche Dogmen in den russischen Streitkräften diffundieren.»
«Natürlich besorgt uns das Schicksal unseres Mitbürgers», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Er bezeichnete aber jede Andeutung, dass russische Truppen in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen haben könnten, als «inakzeptabel», wie die russische Nachrichtenagentur Interfax schrieb. Im Raum steht ein möglicher Austausch des Russen gegen ukrainische Gefangene.
Auch die Witwe Schelipowa forderte vor Gericht lebenslange Haft für den jungen Russen, betonte aber zugleich: «Wenn er gegen einen von unseren Mariupoler Verteidigern ausgetauscht wird, dann bin ich nicht dagegen.»
Aus Asowstal in der Hafenstadt Mariupol sind inzwischen nach Moskauer Angaben mehr als 2400 ukrainische Kämpfer in russische Gefangenschaft gekommen. Russland stellt sie als stramme Neonazis dar, die selbst Kriegsverbrechen begangen hätten.
Es sei zu hoffen, dass sich Moskau bei den Prozessen gegen die ukrainischen Soldaten an das humanitäre Völkerrecht halte, sagt Berni. «Wie die Ukraine hat auch Russland alle vier Genfer Konventionen sowie die späteren Zusatzprotokolle unterschrieben.» Allerdings habe Putin im Jahr 2019 ein Zusatzprotokoll zurückgezogen, so Berni. «Darin wurde festgelegt, dass sich die Unterzeichnerstaaten verpflichten, mit internationalen Untersuchungsmissionen zusammenzuarbeiten. Russland kann daher nun Akten zurückhalten, die Moskau für den Verstoss gegen die Genfer Konventionen verantwortlich machen könnten.»
Dass Wadim S. bei einem Gefangenenaustausch zurück nach Russland darf, hält Berni für möglich. Im 20. Jahrhundert habe es auch Fälle gegeben, in denen bereits verurteilte Kriegsverbrecher ausgetauscht worden seien. «Es liegt nun an der ukrainischen Führung, zu beurteilen, was ihr wichtiger ist: Eine Verbüssung der Strafe oder ein Tausch gegen eigene Kriegsgefangene.»
"Es tut mir sowohl für uns als auch für die Ukrainer leid. Es sterben genau die gleichen auf beiden Seiten: jemandes Ehemann, jemandes Sohn. (...) Ich weiss nicht, warum jemand will, dass so viele Menschen sterben."
uns sind Zellen ind Gerichtssälen fremd, meines erachtens aber in vielen Ländern Praxis.
Ich sehe einen jungen gepflegten Mann in anständiger (nicht Knalloranger) Kleidung der offenbar zugang zu Hygieneinstalationen hat und sich reuig zeigt und nicht verängstigt wirkt. Es wird ein exempel Statuiert. Da hat er gewissermassen auch Pech gehabt. Es ist wohl aber der Weg der Ukraine anderen Soldaten klar zu machen, dass sie vom Recht der Befehlsverweigerung gebrauch machen sollen….
Was er getan hat war falsch und ist nicht entschuldbar. Aber auch er muss sich in diesem Moment in einer ausweglosen Situation befunden haben. Die eigene Moral gegen die des Vorgesetzten, und gerade im russischen Militär kann ich mir vorstellen das Befehslverweigerung drastische Konsequenzen hat. Er ist noch so jung, ich kann mir kaum vorstellen das er sich durchsetzen konnte in dem Moment. Es zeigt wieder einmal mehr das wir alle nur verlieren können in solch einem Krieg.