Erschöpfte Gesichter sind es, die gerade um die Welt gehen. Es sind die Gesichter der ukrainischen Soldaten und Kämpfer, die sich über zwei Monate in den Bunkern von Asowstal verschanzt hielten. Jetzt sind sie Kriegsgefangene der russischen Armee.
Das steckt hinter diesen Bildern – und das könnte den Menschen hinter den erschöpften Gesichtern bald blühen:
Am Morgen des 16. Mai, berichtete die russische Medienagentur RIA Novosti über eine geplante Waffenruhe auf dem Gelände von Asowstal in der ukrainischen Hafenstadt Mariupol. Denn ein humanitärer Korridor sollte eingerichtet werden, um verwundete Soldaten aus den Tunnels zu holen.
Am Montagabend berichtete Reuters von den ersten 264 erschöpften Soldaten, die das Gelände von Asowstal dicht gepfercht in fünf Bussen verliessen – nicht nur die verletzten, sondern alle, Frauen und Männer. 53 Soldaten seien schwer verletzt gemäss der Nachrichtenagentur Reuters, die sich auf den ukrainischen Generalstab berief.
Selenskyj sagte in seiner Rede vom 16. Mai, dass der Vorgang von ukrainischen Soldaten und Polizisten sowie internationalen Vermittlern des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK) und der UNO überwacht werde.
Gebracht wurden die Soldaten in prorussische Gebiete der Ukraine. Die 53 Schwerverletzten werden in einem Krankenhaus in der von Separatisten kontrollierten Stadt Novoazovsk medizinisch versorgt.
Die restlichen Kämpfer wurden gemäss russischen Angaben in das kleine Dorf Yelenowka gebracht, das von russischen Truppen besetzt ist. Andere Quellen wie die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) sprechen davon, dass die gesunden Soldaten nach Oleniwka (Donezk) gebracht worden seien.
Die Kämpfer von Asowstal sind jetzt also in russischer Kriegsgefangenschaft. Nach ukrainischen Angaben sei ein Gefangenenaustausch geplant. Doch womöglich kommt es nicht so weit.
Denn Russland beschuldigt die Soldaten des Asow-Regiments, rechtsextreme «Nazis» zu sein. Und Soldaten des Asow-Regiments haben unter anderen die Bunker von Asowstal verteidigt.
Die russische Generalstaatsanwaltschaft fordert nun die Anerkennung des ukrainischen Asow-Regiments als terroristische Organisation, wie RIA Novosti unter Berufung auf das Justizministerium berichtet. Der Oberste Gerichtshof wird die Klage am 26. Mai verhandeln.
Der Sprecher der Staatsduma Wjatscheslaw Wolodin schrieb am Nachmittag des 17. Mai auf Telegram:
Was mit den Kämpfern aus Asowstal geschehen wird, sei «sehr schwierig vorauszusagen», sagt Tamara Cubito von der Militärakademie der ETH Zürich. Sie hat ausführlich zu Kriegsgefangenen geforscht und meint: «Im schlimmsten Fall droht ihnen eine Befragung inklusive Folter, gefolgt von einer Verurteilung wegen Kriegsverbrechen mit entsprechender Bestrafung in Russland. Im besten Fall werden sie bald ausgetauscht.»
Die Kämpfer aus Asowstal hätten für beide Seiten eine propagandistische Bedeutung, so Cubito. «Für die Ukrainer als Helden des Freiheitskampfes und für die Russen als Nazis.» Es sei deshalb denkbar, «dass die Kämpfer aus Asowstal aufgrund dieses ‹Wertes› in einem bestimmten Verhältnis ausgetauscht werden, zum Beispiel ein Kämpfer aus Asowstal für drei russische Soldaten.» Eine entscheidende Voraussetzung für einen Gefangenenaustausch sei, dass beide Seiten ernsthaft daran interessiert seien. «Ich bin mir nicht so sicher, ob die Russen dies sind.»
Dass die ukrainischen Kämpfer momentan in einem Krankenhaus gepflegt werden, entspreche den Genfer Konventionen, die auch Russland unterzeichnet habe, erklärt Cubito. Dort stehe ganz klar: «Die Verwundeten und Kranken werden geborgen und gepflegt.»
Wie im laufenden Krieg mit den Kriegsgefangenen umgegangen wurde, kann gemäss Cubito nicht genau gesagt werden. Dazu würden unabhängige Berichte fehlen. «Was man weiss, deutet jedoch nicht auf eine besonders gute Behandlung hin. Eine UNO-Mission kommentierte, dass ukrainische Soldaten in Videos, die kurz nach ihrer Gefangennahme aufgenommen wurden, verdächtige blaue Flecken hatten. Auch seien sie eingeschüchtert und beleidigt worden.» In einem watson-Interview kritisierte Cubito auch die Praxis der Ukrainer, die immer wieder Aufnahmen von russischen Kriegsgefangenen ins Netz stellten.
Etwas mehr wisse man zu den verschleppten ukrainischen Zivilisten, sagt Cubito. «Deren Behandlung scheint katastrophal gewesen sein. So berichten einige, dass sie sogar Gliedmassen amputieren mussten. Die Behandlung von Kriegsgefangen wird wohl nicht besser sein, im Gegenteil.»
Die Geschichte verspricht für die ukrainischen Gefangenen nichts Gutes. Die Russen seien in der Vergangenheit mit den Kriegsgefangenen oft «nicht besonders zimperlich» umgegangen, so Cubito. «Dies ist womöglich auch ein Spiegelbild davon, wie man mit Teilen der eigenen Bevölkerung umging und immer noch umgeht. Stichwort Gulag, Straflager und so weiter.» Die Militärhistorikerin gibt zu bedenken: «Man muss allerdings auch sehen, dass die schlechte Behandlung von Kriegsgefangenen in praktisch allen Kriegen leider fast schon dazugehört, und auch der sogenannte Westen hat sich hier schon viel zuschulden kommen lassen.»
Der Mythos Asowstal ist Teil der Kriegspropaganda – sowohl auf russischer als auch auf ukrainischer Seite. Und so spielt das Wording eine entscheidende Rolle bei der Berichterstattung der beiden Kriegsparteien, wenn von Asowstal die Rede ist.
Am späten Dienstagabend sprach der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj davon, dass «die Rettung der Kämpfer von Asowstal» im Gange sei, denn die Ukraine brauche «lebende Helden». Und so war in den ukrainischen Medien auch von «Evakuierung» die Rede.
Das russische Verteidigungsministerium hingegen stellte den Abzug der ukrainischen Soldaten aus Asowstal als Kapitulation dar: Russischen Angaben zufolge hätten sich bis Mittwoch 959 ukrainische Kämpfer aus dem belagerten Stahlwerk Asowstal «ergeben», wie die russische staatliche Medienagentur Interfax mitteilte. Am 17. Mai veröffentlichte das Verteidigungsministerium zudem ein Video, das 265 sich ergebenden Soldaten zeigen soll.
Cubito meint dazu: «Das Wort ‹evakuiert› impliziert, dass man keine Niederlage erlitten hat, und das passt natürlich in das ukrainische Narrativ eines heldenhaften Kampfes um das Stahlwerk und Mariupol im Allgemeinen. ‹Ergeben› bedeutet, dass die Russen gewonnen haben, und das passt natürlich zum russischen Narrativ. Was klar scheint, ist, dass die Kämpfer nun in den Händen der Russen respektive der russischen Separatisten sind. ‹Ergeben› dürfte wohl deshalb der Wahrheit näher kommen.»
«Es könnte meine letzte Erklärung sein, weil uns nur noch wenige Tage oder sogar Stunden bleiben. (...) Wir bitten Sie, uns in das Hoheitsgebiet eines Drittlandes zu bringen, damit wir sicher sind», dieser dramatische Appell erreichte am 19. April die CNN. Gekommen ist dieser Hilferuf von Serhjy Wolyna, Kommandeur der ukrainischen 36. Marineinfanteriebrigade – tief aus den Bunkern von Asowstal.
Das Eisen- und Stahlwerk Asowstal – eines der grössten Hüttenwerke Europas – war zu diesem Zeitpunkt längst zum apokalyptischen Bollwerk für die ukrainischen Streitkräfte in der belagerten Hafenstadt Mariupol geworden. Mariupol war bereits kurz nach dem russischen Einmarsch im Februar eingekesselt worden.
Asowstal liegt im Osten der Hafenstadt Mariupol, ein riesiger Industriekomplex aus dickem Beton und dicken Mauern, Stahltüren und verstärkten unterirdischen Gängen. Eine gewaltige Festung, die wahrscheinlich so konzipiert wurde, dass sie einem Atomkrieg standhalten könnte.
Nach diesem dramatischen Appell standen Asowstal und das Schicksal der Menschen in den Bunkern im Fokus der Weltöffentlichkeit. Die ukrainischen Kämpfer in Asowstal wurden zu einem Symbol des ukrainischen Widerstands gegen den russischen Aggressor.
Ab dem 29. April gelang es dem Roten Kreuz in Zusammenarbeit mit Hilfswerken der UNO, Zivilisten zu evakuieren. Ab dem 04. Mai verkündete Russland den Grossturm auf Asowstal. Doch unter den rauchenden Ruinen verstecken sich damals noch immer ukrainische Zivilisten: Frauen, Kinder, betagte Menschen. Doch die Evakuierung der Zivilisten konnte abgeschlossen werden – sie wurden alle in die ukrainische Stadt Saporischschja verfrachtet.
Die Zivilistin Katharin erzählte nach der erfolgreichen Evakuierung der BBC:
Nach der Evakuierung der Zivilisten trotzten die Kämpfer den russischen Angriffen auf ihre Festung weiter.
Am 10. Mai veröffentlichte das Asow-Regiment Bilder der verletzten Soldaten, die ohne ausreichende medizinische Versorgung in den Bunkern ausharrten. Der Mythos der «lebenden Helden», wie Selenskyj sie nannte, bekam ein Gesicht.
Am 15. Mai liessen die Ukrainer verlauten: «Die Hölle ist auf die Erde gekommen. Zu Asowstal.» Die russische Armee bombardierte das Stahlwerk und die verbliebenen Kämpfer mit funkelnden und leuchtenden Geschossen – ob es sich um Phosphorbomben handelt, kann erst sicher festgestellt werden, wenn Proben der Geschosse für unabhängige Untersuchungen zugänglich werden. Zwei Tage später wurden die ersten Kämpfer mit Bussen von dem Gelände des Stahlwerks gefahren. Die russische Armee hat die ukrainische Stadt Mariupol nun vollständig unter Kontrolle. Es ist vorbei.
In Mariupol gibt es fast keinen Handyempfang und kein Internet mehr, die Informationen sind entsprechend spärlich. Die letzten unabhängigen Journalisten haben die Stadt bereits vor Wochen verlassen.
Der russischen Armee zu misstrauen, ist absolut gerechtfertigt.
Und wieder werden die Russen die Menschenrechte mit Füssen treten und wieder werden die Russen die anderen der Menschenrechtsverletzungen bezichtigen.