Nach vier Wochen in diesem sinnlosen Krieg hatte der russische Panzerkommandant Misha genug. Seine Truppe, die offiziell für eine «Spezialoperation» in die Ukraine geschickt worden war, hatte kaum noch zu Essen. Die militärische Führung agierte planungslos. Die Moral war am Boden.
Dann sah Misha die SMS-Nachricht, die ukrainische Militärs massenhaft an russische Nummern verschickten. Darin stand: Wer sich ergeben wolle, soll sich melden. Misha meldete sich, die ukrainische Seite antwortete. Dann fuhr Misha mit seinem Panzer auf ein abgelegenes Feld, stellt das Fahrzeug ab, stieg aus und legte sich nebenan mit ausgestreckten Armen bäuchlings auf den Boden.
Eine ukrainische Drohne näherte sich und stellte sicher, dass der russische Kämpfer keinen Hinterhalt plante. Dann wurde Misha von ukrainischen Soldaten abgeführt. Er erhalte ein Aufenthaltsrecht in der Ukraine, 10'000 US-Dollar und habe Zugang zu Fernsehen, einer Dusche und einem Telefon, sagte die ukrainische Seite.
Der fahnenflüchtige Panzer-Kommandant Misha ist bei weitem kein Einzelfall. Täglich desertieren je nach Angaben Dutzende wenn nicht gar Hunderte russische Soldaten in der Ukraine und laufen zum vermeintlichen Feind über. Am Montag vergangener Woche sollen alleine in der nordostukrainischen Stadt Sumy 200 russische Soldaten freiwillig ihre Waffen gestreckt haben.
Die desertierenden Truppen werden für Wladimir Putin und seine Armee zunehmend zum Problem. Rund 190'000 Mann hat er in die Ukraine entsandt, bis zu 15'000 russische Soldaten sind im ersten Kriegsmonat bereits getötet worden (gleich viele wie im gesamten Afghanistan-Krieg der Russen 1979 bis 1989). Wenn jetzt täglich Hunderte Soldaten mitsamt ihren Panzern und Waffen davonlaufen, dann schwächt das den ohnehin stockenden Vormarsch der russischen Truppen weiter.
«Wir sehen Fälle von russischen Soldaten, die sich freiwillig ergeben und unser Militär kontaktieren», bestätigte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrsky vergangene Woche. Viele würden sich bei der ukrainischen Seite danach erkundigen, was mit ihnen passiere, wenn sie sich ergeben. Diese Männer fühlten sich von der eigenen Regierung verraten und als «Kanonenfutter» missbraucht, sagte Monystyrsky.
Abgehörte Funksprüche zwischen russischen Einheiten in der Ukraine legen nahe, dass die Moral von Putins Truppen nach den ersten schwierigen Kriegswochen stark gelitten hat. Leere Benzintanks, kaputtes Material und knappes Essen drücken auf die Motivation. Dazu kommt, dass viele Russen erstaunt sind, in der Ukraine nicht auf jubelnde Massen zu treffen, die sich bei den russischen «Befreiern» bedanken.
«Mama, das Leben hier war friedlich, bevor unser Präsident das alles angefangen hat», sagte ein russischer Kriegsgefangener seiner Mutter vor laufenden ukrainischen Kameras am Telefon. Dass die Ukraine offenkundig nicht von «drogensüchtigen Nazis» regiert wird, wie ihnen das die russische Propaganda einzutrichtern versuchte, führt bei vielen Soldaten zu Ernüchterung. Wofür oder wogegen soll man denn hier überhaupt kämpfen?
Die ukrainische Denkfabrik Center for Defence Strategies schreibt: «Die russischen Truppen sind sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst und entscheiden sich immer häufiger, zu desertieren, statt zu sterben.» Auch ukrainische Funk- und Abhörspezialisten bewegen die Russen zur Fahnenflucht. In veröffentlichten Funk-Konversationen ist zu hören, wie ukrainische Störer den russischen Invasoren zu funken:
Die ukrainische Seite will die wachsende Verzweiflung der russischen Truppen ausnutzen. Verteidigungsminister Olexij Resnikow schrieb auf Facebook, man garantiere russischen Deserteuren Straffreiheit, ein Aufenthaltsrecht und bis zu 40'000 Euro. Dazu müssten sich die russischen Soldaten einfach mit einer weissen Fahne ergeben und das Codewort «Million» sagen.
Auch die russische Führung hat die Probleme in den eigenen Reihen erkannt – und reagiert. Putin soll spezielle Truppen losgeschickt und damit beauftragt haben, russische Deserteure in der Ukraine aufzuspüren und auf der Stelle zu erschiessen. Die Massnahme erinnert an den 1942 von Josef Stalin verhängten «Befehl 227», der russischen Soldaten vorschrieb, desertierende Kameraden «sofort und auf der Stelle» zu liquidieren. Zum Vergleich: Auch das Schweizer Militärstrafgesetzbuch sah ab 1927 bis Ende des Kalten Krieges Massnahmen bis hin zur Todesstrafe für jene vor, die Fahnenflucht vor dem Feind begingen.
Putin schickt aber nicht nur Fahnenflucht-Jäger los. Er lässt auch seine Propaganda-Maschine hochfahren. Das zumindest legt ein Befehl des russischen Verteidigungsministeriums nahe, der gestern von der Hacker-Gruppe «Anonymous» veröffentlicht worden ist. Der Befehl fordert die sofortige Produktion und Verbreitung von Videos, die die angeblich «unmenschliche Behandlung russischer Kriegsgefangener durch ukrainische Truppen» zeige. Ganz konkret soll damit den «zunehmenden Berichten über sich ergebende Truppen» entgegengewirkt werden.
Offenbar haben Putins willige Vollstrecker den Befehl bereits umgesetzt. Im Internet kursiert ein Video, das zeigen soll, wie ukrainische Soldaten russischen Kriegsgefangenen grundlos in die Beine schiessen. Die ukrainische Seite hat eine umgehende Untersuchung des Videos angeordnet. Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin mit einer fiesen Fälschung versucht, sein brutales Vorgehen im westlichen Nachbarland zu rechtfertigen.