International
Russland

Russische Deserteure wittern ihre Chance – Moskau greift zu fiesem Trick

Russische Deserteure wittern ihre Chance – doch Moskau greift zu einem perfiden Trick

Der fahnenflüchtige Panzer-Kommandant Misha ist bei weitem kein Einzelfall: Die Berichte über desertierende russische Soldaten mehren sich. Die ukrainische Seite macht ihnen ein gutes Angebot.
28.03.2022, 22:1730.03.2022, 16:31
Samuel Schumacher / ch media
Mehr «International»
Ein russischer Panzer-Kommandant ergibt sich freiwillig einem ukrainischen Soldaten.
Ein russischer Panzer-Kommandant ergibt sich freiwillig einem ukrainischen Soldaten.bild: keystone

Nach vier Wochen in diesem sinnlosen Krieg hatte der russische Panzerkommandant Misha genug. Seine Truppe, die offiziell für eine «Spezialoperation» in die Ukraine geschickt worden war, hatte kaum noch zu Essen. Die militärische Führung agierte planungslos. Die Moral war am Boden.

Dann sah Misha die SMS-Nachricht, die ukrainische Militärs massenhaft an russische Nummern verschickten. Darin stand: Wer sich ergeben wolle, soll sich melden. Misha meldete sich, die ukrainische Seite antwortete. Dann fuhr Misha mit seinem Panzer auf ein abgelegenes Feld, stellt das Fahrzeug ab, stieg aus und legte sich nebenan mit ausgestreckten Armen bäuchlings auf den Boden.

Eine ukrainische Drohne näherte sich und stellte sicher, dass der russische Kämpfer keinen Hinterhalt plante. Dann wurde Misha von ukrainischen Soldaten abgeführt. Er erhalte ein Aufenthaltsrecht in der Ukraine, 10'000 US-Dollar und habe Zugang zu Fernsehen, einer Dusche und einem Telefon, sagte die ukrainische Seite.

Der fahnenflüchtige Panzer-Kommandant Misha ist bei weitem kein Einzelfall. Täglich desertieren je nach Angaben Dutzende wenn nicht gar Hunderte russische Soldaten in der Ukraine und laufen zum vermeintlichen Feind über. Am Montag vergangener Woche sollen alleine in der nordostukrainischen Stadt Sumy 200 russische Soldaten freiwillig ihre Waffen gestreckt haben.

Abgehörte Funksprüche bestätigen: Die russische Moral ist am Boden

Die desertierenden Truppen werden für Wladimir Putin und seine Armee zunehmend zum Problem. Rund 190'000 Mann hat er in die Ukraine entsandt, bis zu 15'000 russische Soldaten sind im ersten Kriegsmonat bereits getötet worden (gleich viele wie im gesamten Afghanistan-Krieg der Russen 1979 bis 1989). Wenn jetzt täglich Hunderte Soldaten mitsamt ihren Panzern und Waffen davonlaufen, dann schwächt das den ohnehin stockenden Vormarsch der russischen Truppen weiter.

Täglich laufen je nach Quelle Dutzende bis Hunderte russische Soldaten zur ukrainischen Seite über.
Täglich laufen je nach Quelle Dutzende bis Hunderte russische Soldaten zur ukrainischen Seite über.bild: twitter

«Wir sehen Fälle von russischen Soldaten, die sich freiwillig ergeben und unser Militär kontaktieren», bestätigte der ukrainische Innenminister Denys Monastyrsky vergangene Woche. Viele würden sich bei der ukrainischen Seite danach erkundigen, was mit ihnen passiere, wenn sie sich ergeben. Diese Männer fühlten sich von der eigenen Regierung verraten und als «Kanonenfutter» missbraucht, sagte Monystyrsky.

Abgehörte Funksprüche zwischen russischen Einheiten in der Ukraine legen nahe, dass die Moral von Putins Truppen nach den ersten schwierigen Kriegswochen stark gelitten hat. Leere Benzintanks, kaputtes Material und knappes Essen drücken auf die Motivation. Dazu kommt, dass viele Russen erstaunt sind, in der Ukraine nicht auf jubelnde Massen zu treffen, die sich bei den russischen «Befreiern» bedanken.

Ein russischer Soldat wird von Ukrainerinnen mit Tee und Brot versorgt.
Ein russischer Soldat wird von Ukrainerinnen mit Tee und Brot versorgt.screenshot: telegram

«Mama, das Leben hier war friedlich, bevor unser Präsident das alles angefangen hat», sagte ein russischer Kriegsgefangener seiner Mutter vor laufenden ukrainischen Kameras am Telefon. Dass die Ukraine offenkundig nicht von «drogensüchtigen Nazis» regiert wird, wie ihnen das die russische Propaganda einzutrichtern versuchte, führt bei vielen Soldaten zu Ernüchterung. Wofür oder wogegen soll man denn hier überhaupt kämpfen?

Die ukrainische Denkfabrik Center for Defence Strategies schreibt: «Die russischen Truppen sind sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst und entscheiden sich immer häufiger, zu desertieren, statt zu sterben.» Auch ukrainische Funk- und Abhörspezialisten bewegen die Russen zur Fahnenflucht. In veröffentlichten Funk-Konversationen ist zu hören, wie ukrainische Störer den russischen Invasoren zu funken:

«Es ist besser, ein Deserteur zu sein, denn als Dünger zu enden.»

Die ukrainische Seite will die wachsende Verzweiflung der russischen Truppen ausnutzen. Verteidigungsminister Olexij Resnikow schrieb auf Facebook, man garantiere russischen Deserteuren Straffreiheit, ein Aufenthaltsrecht und bis zu 40'000 Euro. Dazu müssten sich die russischen Soldaten einfach mit einer weissen Fahne ergeben und das Codewort «Million» sagen.

Putin greift auf Stalins brutale Trickkiste zurück

Auch die russische Führung hat die Probleme in den eigenen Reihen erkannt – und reagiert. Putin soll spezielle Truppen losgeschickt und damit beauftragt haben, russische Deserteure in der Ukraine aufzuspüren und auf der Stelle zu erschiessen. Die Massnahme erinnert an den 1942 von Josef Stalin verhängten «Befehl 227», der russischen Soldaten vorschrieb, desertierende Kameraden «sofort und auf der Stelle» zu liquidieren. Zum Vergleich: Auch das Schweizer Militärstrafgesetzbuch sah ab 1927 bis Ende des Kalten Krieges Massnahmen bis hin zur Todesstrafe für jene vor, die Fahnenflucht vor dem Feind begingen.

Putin schickt aber nicht nur Fahnenflucht-Jäger los. Er lässt auch seine Propaganda-Maschine hochfahren. Das zumindest legt ein Befehl des russischen Verteidigungsministeriums nahe, der gestern von der Hacker-Gruppe «Anonymous» veröffentlicht worden ist. Der Befehl fordert die sofortige Produktion und Verbreitung von Videos, die die angeblich «unmenschliche Behandlung russischer Kriegsgefangener durch ukrainische Truppen» zeige. Ganz konkret soll damit den «zunehmenden Berichten über sich ergebende Truppen» entgegengewirkt werden.

Offenbar haben Putins willige Vollstrecker den Befehl bereits umgesetzt. Im Internet kursiert ein Video, das zeigen soll, wie ukrainische Soldaten russischen Kriegsgefangenen grundlos in die Beine schiessen. Die ukrainische Seite hat eine umgehende Untersuchung des Videos angeordnet. Es wäre nicht das erste Mal, dass Putin mit einer fiesen Fälschung versucht, sein brutales Vorgehen im westlichen Nachbarland zu rechtfertigen.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Angriff auf Charkiw – dieser Raketeneinschlag ging zum Glück schief
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
76 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Yuni, Subulussalam (#Save_Brahim)
28.03.2022 22:25registriert März 2021
Hätte ich einen Friedenspreis zu vergeben, er ginge an die russischen Deserteure.
47614
Melden
Zum Kommentar
avatar
Andrew 1
28.03.2022 22:30registriert März 2022
Das werden unsere Putinschwurbler hier aber gar nicht gerne hören.
45726
Melden
Zum Kommentar
avatar
Gnuh
28.03.2022 22:38registriert März 2021
Ich verstehe die desertierenden Russen gut. Die denken auch nach. Sie haben meine volle Sympathie. Mehr davon.
4268
Melden
Zum Kommentar
76
Haitis Premierminister zurückgetreten – Übergangsrat vereidigt

Nach der Amtseinführung eines Übergangs-Präsidialrats im Krisenstaat Haiti ist der bisherige Interims-Premierminister Ariel Henry zurückgetreten.

Zur Story