Die Artillerie bestimmt den Krieg in der Ukraine. Sowohl die ukrainischen Verteidiger als auch die russischen Angriffstruppen setzen auf Artilleriegeschosse, um den Gegner in Schach zu halten und Vorstösse zu unterbinden. Rund 80 Prozent der Verluste seit Beginn der Invasion der Kremltruppen liessen sich auf Artilleriebeschuss zurückführen, sagte der Sicherheitsexperte Guy McCardle dem US-Magazin «Newsweek» im Juli.
Und Russland hat kürzlich in diesem Bereich kräftig aufgestockt – mit Unterstützung des nordkoreanischen Diktators Kim Jong Un. Vor knapp zwei Wochen meldeten US-Geheimdienste, dass Nordkorea Russland mehr als 1000 Container mit militärischer Ausrüstung und Munition geliefert habe. Darin befanden sich offenbar Hunderttausende Artilleriegeschosse, wie der Chef des estnischen Militärgeheimdienstes, Ants Kiviselg, vermutete.
Den Lieferungen vorausgegangen war eine diplomatische Offensive zwischen Russland und Nordkorea in den vergangenen Wochen, die in einem Treffen zwischen Kremlchef Wladimir Putin und Kim Jong Un Mitte September in Russland gipfelte. Zuvor war der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu in das ostasiatische Land gereist und hatte dort Waffen begutachtet. Putins Treffen mit Kim befeuerte Spekulationen über Waffendeals der beiden Despoten. Der russische Präsident erhob damals sein Glas «auf die künftige Stärkung der Zusammenarbeit und der Freundschaft zwischen unseren Ländern».
«Wenn man davon ausgeht, dass ein Seecontainer 300 bis 350 Stück Artilleriemunition fasst, kann man sagen, dass insgesamt 300'000 bis 350'000 Stück geliefert wurden», sagte Kiviselg am vergangenen Freitag auf einer Pressekonferenz des estnischen Verteidigungsministeriums. Russland feuere in der Ukraine zurzeit rund 10'000 Artilleriegeschosse am Tag ab. Die nordkoreanischen Lieferungen würden also etwa einen ganzen Monatsbedarf der russischen Truppen decken.
Die Schätzungen über den Bedarf an Artilleriegeschossen gehen auseinander. Laut ukrainischen Angaben nutzt Russland in der derzeitigen Phase des Krieges sogar rund 15'000 Artilleriegranaten täglich. Zum Vergleich: Im vergangenen Sommer sollen die Kremltruppen täglich zwischen 45'000 und 80'000 Schuss verbraucht haben. Im ganzen ersten Kriegsjahr sollen zwischen zehn und elf Millionen Artilleriegeschosse von Russland abgefeuert worden sein.
Dem ukrainischen Militärexperten Petro Chernyk zufolge ist Russland mit einem Vorrat von 15 bis 20 Millionen Artilleriegranaten in den Krieg gegen die Ukraine gezogen. Zudem produziere die russische Rüstungsindustrie bis zu 130'000 Schuss im Monat. Doch nun geht Russland offenbar die Munition aus, was erklären könnte, warum Kremlchef Wladimir Putin Deals mit Nordkoreas Diktator Kim Jong Un abschliessen muss.
Russland hat die heimische Produktion allerdings kräftig angekurbelt: In den kommenden zwei Jahren sollen bis zu zwei Millionen Geschosse jährlich produziert werden können, meldete die Nachrichtenagentur Reuters Anfang September unter Berufung auf westliche Beamte. Dennoch sei das «keine sehr starke Position», zitiert Reuters aus einem Hintergrundgespräch.
Nun kommt es darauf an, wie lange Pjöngjang die Lieferungen fortsetzen kann. «Selbst 50'000 bis 100'000 Artilleriegeschosse pro Monat aus Nordkorea werden einen Unterschied auf dem Schlachtfeld machen, wenn sie aufrechterhalten werden können», schreibt der Sicherheitsexperte Rob Lee vom US-Thinktank Foreign Policy Research Institute auf der Plattform X, vormals Twitter.
Westliche Militärexperten zumindest gingen davon aus, dass Russland angesichts der eigenen Produktion und der nordkoreanischen Unterstützung «ausreichende Feuerraten» gewährleisten könne, schreibt die US-Denkfabrik Institute for the Study of War (ISW). Ein weitverbreiteter Engpass bei den russischen Streitkräften sei nicht abzusehen. Und selbst ein Rückgang der Feuerrate würde den ukrainischen Truppen nicht per se einen Vorteil verschaffen.
#Russia's domestic production of artillery shells, supplemented by increased ammunition imports from North Korea, will likely allow Russian forces to sustain sufficient rates of artillery fire in #Ukraine in 2024, albeit at a relatively lower level than during 2022.… pic.twitter.com/nHklF21NlH
— ISW (@TheStudyofWar) October 23, 2023
«Das Ausmass, in dem die internationalen Partner die Fähigkeit der Ukraine unterstützen, eine effektive Feuerkraft im Vergleich zu den russischen Streitkräften aufrechtzuerhalten, wird ein entscheidender Faktor für die jeweiligen Fähigkeiten im Jahr 2024 sein», schätzt das ISW die Situation ein.
Schon jetzt verbraucht die Ukraine mehr Artilleriegranaten, als der Westen nachliefern kann. Im Zuge der Gegenoffensive, die seit dem Sommer läuft, verschiessen Kiews Truppen durchschnittlich rund 6000 Artilleriegranaten täglich. Und das Militär fordert mehr: Laut der ukrainischen Abgeordneten Oleksandra Ustinowa wollen die Streitkräfte bis zu 10'000 Geschosse täglich abfeuern. Rheinmetall-Chef Armin Papperger schätzt, dass die Ukraine jährlich rund 1,5 Millionen Geschosse benötige.
Doch die Verbündeten Kiews hinken bei der Lieferung von Nachschub hinterher. Das US-Verteidigungsministerium gibt an, seit Beginn von Russlands Invasion gut zwei Millionen Artilleriegeschosse an die Ukraine geliefert zu haben. Allein in diesem Jahr hat die Europäische Union die Ukraine mit gut einer Viertelmillion Geschossen beliefert. Und auch Deutschland unterstützt die ukrainische Artillerie massgeblich. Bisher umfassen die Militärhilfen in diesem Bereich folgende Lieferungen (Stand: 20. Oktober 2023):
Das alles ist wohl nur ein Tropfen auf den heissen Stein. In den USA und Europa müsste die Produktion von Artilleriemunition massgeblich angekurbelt werden, um den ukrainischen Bedarf auch in Zukunft zu decken, sind sich Experten sicher. Doch in Europa gab es Anfang des Jahres nur Produktionskapazitäten für rund 300'000 Schuss jährlich.
Im besten Fall sollten mehr als zwei Millionen produziert werden. Dieses Ziel scheint in weiter Ferne zu liegen. Allein bei Rheinmetall gibt es laut Geschäftsführer Papperger einen Auftragsstau bei der Munition, der sich auf einen Wert von gut zehn Milliarden Euro beläuft. Sein Konzern will im kommenden Jahr 600'000 Schuss produzieren.
Die USA stellen zurzeit gut 28'000 Geschosse pro Monat her, bis 2025 soll die Zahl auf rund 100'000 Artilleriegranaten ansteigen, wie der Chef des Beschaffungsamts im Pentagon, William LaPlante, dem US-Sender CNN sagte.
Angesichts der westlichen Produktionsprobleme sollten Nordkoreas Lieferungen an Russland also nicht unterschätzt werden. Zumal der Kreml noch gut vier Millionen Schuss in seinen Depots haben soll, wie der estnische Militärgeheimdienst vermutet. Mit Blick auf die momentan verhältnismässig niedrige Feuerrate von gut 10'000 Schuss am Tag wäre das mehr als ein Jahresvorrat. «Die Lieferungen aus Nordkorea deuten darauf hin, dass Russland seinen Krieg in der Ukraine noch lange fortsetzen will», so Geheimdienstchef Kiviselg.
Verwendete Quellen:
Auch wenn ich nicht erfreut darüber bin, sollten wir im Westen vielleicht doch langsam auf Rüstungsindustrie umstellen. China und besonders Russland zwingen uns dazu. Wir können ihnen auf dem Gebiet der Artillerie nicht die Oberhand lassen, wie wir in der Ukraine sehen können.
Das übernimmt ja Nord Korea. Und die notwendigen Ressoucen dafür kommen aus China.