Das beste Indiz für den Glauben des Kremls an einen schnellen Sieg in der Ukraine wurde am letzten Samstag sichtbar. Auf der Website der staatlichen Nachrichtenagentur RIA-Novosti erschien ein Kommentar, der das Ende der «antirussischen» Ukraine und den Beginn einer «neuen Weltordnung» ohne westliche Dominanz abfeierte.
Nach etwa einer Minute war er wieder verschwunden, doch im Archiv ist er weiterhin zu finden. Der von Pjotr Akopow verfasste Text wurde auch auf Englisch übersetzt. Die Lektüre lohnt sich. Sie ermöglicht einen Einblick in das revanchistische Weltbild von Wladimir Putin und seiner Entourage. Und ihre Realitätsverweigerung.
«Russland stellt seine historische Vollständigkeit wieder her, indem es die russische Welt, das russische Volk in seiner Gesamtheit aus Grossrussen, Weissrussen und Kleinrussen zusammenführt», schrieb Akopow. Mit «Kleinrussen» ist die Ukraine gemeint. Die ist jedoch nicht gewillt, sich Russland zu unterwerfen. Der Krieg ist unvermindert im Gang.
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Der vorgefertigte und für die Publikation am Samstag getimte Kommentar zeigt, dass die Invasion im Nachbarland überhaupt nicht nach dem Drehbuch des Kreml verläuft. Die russische Propaganda tut sich entsprechend schwer. Monatelang hatte sie behauptet, das «Gerücht» über einen russischen Einmarsch in die Ukraine sei westliche Angstmacherei.
Als es am letzten Donnerstag soweit war, schaltete der Propaganda-Apparat einen Gang höher. «Putin beginnt militärische Sonderoperation zum Schutz des Donbass und Entnazifizierung der Ukraine», titelte RT DE schon am frühen Morgen. An diesem Narrativ halten die staatlich gelenkten Medien trotz ungünstigem Kriegsverlauf eisern fest.
Die Zensurbehörde Roskomnadsor hat Begriffe wie «Angriff», «Invasion» oder «Kriegserklärung» verboten. Im Staatsfernsehen wird praktisch nur über die Kämpfe in der Ostukraine berichtet. Die Einsätze richteten sich einzig gegen militärische Ziele. Gebe es zivile Opfer, seien sicher nicht die Russen schuld, sondern die ukrainischen «Nazis».
Wer keine sozialen Netzwerke oder unabhängigen Medien nutze, erhalte «überhaupt keine Vorstellung von russischen Angriffen auf Kiew, Charkiw, Sumi oder Odessa und den Zerstörungen, die sie hinterlassen», berichtet der Moskau-Korrespondent der NZZ. Auch die Schulen würden mit der Kreml-Version der «Ereignisse in der Ukraine» indoktriniert.
Über die westlichen Sanktionen, die das russische Volk hart treffen, wird allenfalls nebenbei berichtet. Oft geschehe dies zwischen Fernsehwerbung für Ferien im Ausland, schnellen Zahlungsverkehr, Unterhaltungselektronik oder günstige Hypotheken; «alles Dinge, die für durchschnittliche Russen bald schwieriger erhältlich sein werden», schreibt der «Economist».
Den Wertverfall des Rubel bekommen viele schon jetzt zu spüren. Obwohl Putins Propagandamaschine «mit Vollgas» operiert, so der «Economist», lässt sich die Wahrheit immer schwieriger verbergen. Promis sprechen sich gegen den Krieg aus, darunter der Rapper Oxxxymiron oder der Vlogger Juri Dud, die Millionen Follower haben.
Selbst staatstreue Institutionen veröffentlichen offene Briefe gegen den Ukraine-Krieg, darunter die Akademie der Wissenschaften oder das Hochschulinstitut für internationale Beziehungen, das als Kaderschmiede der russischen Diplomatie gilt. Oligarchen wie Oleg Deripaska warnen vor dem wirtschaftlichen Ruin Russlands bei einem anhaltenden Krieg.
Duma-Abgeordnete der Kommunisten, eigentlich eine Pseudo-Opposition, erklärten, man habe sie getäuscht. Worauf der «ewige» Parteichef Gennadi Sjuganow sie in stalinistischer Manier zu Selbstkritik aufforderte. Und täglich demonstrieren mutige Menschen gegen den Krieg, obwohl die Polizei sofort durchgreift und schon Tausende verhaftet wurden.
Die Staatsmacht reagiert auf die Anti-Kriegs-Proteste in bekannter Manier: Sie zieht die Repressionsschraube weiter an. Am Dienstag verfügte die Generalstaatsanwaltschaft die Sperrung des Web-TV-Senders Doschd und die Einstellung des Sendebetriebs von Radio Echo Moskwy. Es sind zwei der letzten unabhängigen Medien Russlands.
Die beiden Sender verbreiteten «absichtlich falsche Informationen» zur Armee, hiess es als Begründung. Noch verschont wird die Zeitung «Nowaja Gaseta», vielleicht weil Chefredaktor Dmitri Muratow im Dezember den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Der Zugang zu sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter wird blockiert oder verlangsamt.
Wie fast immer in solchen Fällen sollen auch die Gesetze verschärft werden. «Unzutreffende Berichterstattung» über die Streitkräfte soll demnach mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft werden. Solche Forderungen sowie die Blockierung von oppositionellen und sozialen Medien seien «ein Eingeständnis dafür, dass es offenbar etwas zu verbergen gibt», meint die NZZ.
Diese dürfte immer schwieriger werden. Viele Menschen in Russland erhalten Infos aus der Ukraine, von Freunden und Angehörigen. Und von Soldaten der Invasionstruppen. «Je mehr Berichte über Gefallene, Verletzte und Kriegsgefangene es geben wird, desto schwieriger wird es, die Wahrheit zu unterdrücken», so der NZZ-Korrespondent.
Noch funktioniert die Propagandamaschine. Aber es gibt Anzeichen für Zerfall, besonders bei den im Ausland operierenden, vom Kreml finanzierten Medien RT und Sputnik. Die EU will sie verbieten, und weltweit laufen ihnen die Mitarbeiter davon. Bei einem langen und verlustreichen Krieg wird es mehr Risse in der «Mauer des Schweigens» geben.
Zu viele Leute lesen keine Zeitung mehr, informieren sich nicht aus Büchern und Zeitschriften. Stattdessen schauen sie irgendwelche pseudowissenschaftlichen Videos, hören zweifelhafte Podcasts an oder teilen irgendwelche Meinungen in den sozialen Medien. Eigentlich wollen diese Leute kritisch sein, merken aber nicht, dass sie auf diese Weise zu Steigbügelhaltern für Autokraten werden.
Eine höchst bedenkliche Entwicklung!