Lieber Herr Putin
Sie haben also getan, was aus Ihrer Perspektive wohl getan werden musste: Sie sind in die Ukraine eingefallen, um das Land zackig in Ihren Einflussbereich zu bringen. Was genau Ihre Motivation ist, wissen wohl nur Sie.
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Wollen Sie sich Ihren Platz als Restaurator des vorrevolutionären Zarenreichs in der Geschichte erbomben? Wollen Sie mehr Profit ziehen aus Ihren zwei wichtigsten Gaspipelines, die durch die Ukraine nach Europa verlaufen? Haben Sie Angst, zu viel freiheitlicher Lifestyle in Osteuropa könnte auch die russische Bevölkerung auf den Geschmack bringen? Oder haben Sie schlicht den Realitätsbezug verloren und wollen die NATO-Führung nach Ihrer Pfeife tanzen lassen?
Vermutlich von allem ein bisschen, aber entscheidend ist die Message: Sie sind bereit, spektakuläre und aufwendige konventionelle Kriege zu führen, um die geopolitischen Machtverhältnisse in Russlands oder Ihrem Interesse zu optimieren.
Bloss glaube ich, dass Sie dafür nicht (mehr) der richtige Mann sind.
Sie sind ein ehemaliger KGB-Offizier, in Ihrer beruflichen DNA ein Geheimdienstler. Sie arbeiten verdeckt, mit psychologischer Kriegsführung, mit Kontrolle über Situation und Zielobjekt, mit Analyse und Deal, Angst, Propaganda und Täuschung. Das ist Ihre bewährte Herangehensweise an Probleme.
Nur wenn alles nichts hilft, gibt es «Spezialoperationen»: Überraschende gewalttätige Übergriffe aus überlegener Position, die sich irgendwie abstreiten, vertuschen oder legitimieren lassen und die das Opfer terrorisieren. Das ist Ihr Modus Operandi, so haben Sie Ihre Karriere gemacht. Es hat in Tschetschenien geklappt, es hat im politischen Abnützungskampf gegen die Wende-Oligarchen geklappt, es hat bei der Konsolidierung Ihrer Macht geklappt.
Danach hat es auch in Georgien geklappt, es hat in Syrien geklappt, es hat auf der Krim und im Donbass geklappt und irgendwann auf dem Weg liessen Sie Gegner und Kritiker nicht mehr nur in der eigenen Einflusssphäre, sondern auch am helllichten Tag mitten in westlichen Metropolen erledigen.
Offensichtlich hat es auch in Ihrem engsten Umfeld geklappt. Wer die «Live»-Übertragung Ihres Sicherheitsrats-Meetings gesehen hat, weiss, dass selbst Ihre engsten Mitarbeiter Angst vor Ihnen haben, die sagen nur, was Sie hören wollen. Vermutlich zu Recht: Berater, die lästige Details oder gar die Realität aufbringen, stören im Herbst einer Diktatorenkarriere ja eher, wie die Geschichte zeigt.
In dieser uninformierten Hybris droht nun Ihre jüngste «militärische Spezialoperation», Ihr Plan eines schnellen Regime-Changes in der Ukraine, zu einem Fiasko historischen Ausmasses auszuarten. Mit langanhaltend unangenehmen Konsequenzen für Sie und ihr Land.
Wider erwarten bewirft die ukrainische Bevölkerung Ihre Panzer nicht mit Rosen, sondern Molotow-Cocktails und statt rasch das Feld zu räumen, wehren sich auch die ukrainischen Streitkräfte.
Statt verängstigt abzutreten, begeistern die Showbiz-Regierungen um Selenskyj und die Klitschko-Brüder weltweit mit Ihren Inszenierungen. Wenn Sie nun die Ukraine oder die Hälfte davon besetzen, wie wollen Sie eine so grosse von diesem Widerstandsmythos beseelte Bevölkerung ohne Grausamkeiten kontrollieren?
Statt in Angst auseinanderzustieben, schliessen die USA und die EU die Reihen und ergreifen herbe wirtschaftliche Sanktionen mitsamt Isolation der Zentralbank. Das wird an der «Heimatfront» für einige Unruhe sorgen und darauf waren Sie offensichtlich nicht vorbereitet. Nordstream II, die Pipeline, die Sie wirtschaftlich von den Leitungen durch die Ukraine unabhängiger gemacht hätte, ist ebenfalls gestrichen.
Statt zu kuschen, überbieten sich die NATO-Staaten nach Jahrzehnten der Batzenklemmerei mit sofortigen Erhöhungen ihrer Armee-Budgets und bewilligen Waffenlieferungen in die Ukraine. Gar der sozialdemokratische Kanzler des Erbschuld-Bösewichts Deutschland kündigt einen Aufrüstungsetat von 100 Milliarden an.
Und statt Zuspruch von gewichtigen Akteuren auf der weltpolitischen Bühne, gibt es bloss Applaus von Figuren wie Donald Trump oder Roger Köppel. China, die Türkei, Brasilien oder Ungarn, die üblichen Verdächtigen unter Ihren Unterstützern, äussern sich bestenfalls neutral.
So, wie sich die Lage jetzt präsentiert, werden Sie also nichts von dem erreichen, was Sie vielleicht angetrieben hat. Stattdessen haben Sie Ihrem weiteren geopolitischen Spielraum sehr enge Grenzen gesetzt.
Sie haben schlicht mehr abgebissen, als Sie kauen können, und ich schlage deshalb vor: Lassen Sie es künftig einfach bleiben.
Mit besten Grüssen
Maurice Thiriet