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Wie Ukrainer sich vor dem Kriegsdienst drücken

Wie Ukrainer sich vor dem Kriegsdienst drücken

Zehntausende Ukrainer sollen sich davor drücken, einberufen zu werden. Grenzschützer berichten von Toten.
19.11.2023, 10:35
Thomas Wanhoff / t-online
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Ein ukrainischer Soldat in einer Stellung am Fluss Dnipro: Die Streitkräfte der Ukraine machen wohl signifikante Vorstöße am Fluss, der die Ukraine teilt.
Ein ukrainischer Soldat in einer Stellung am Fluss Dnipro: Die Streitkräfte der Ukraine machen wohl signifikante Vorstösse am Fluss, der die Ukraine teilt.Bild: IMAGO/Dmytro Smoliyenko

Die ukrainischen Grenztruppen haben es nicht nur mit Feinden zu tun, die von aussen kommen. Ihre Augen sind ins eigene Land gerichtet. Von dort nämlich versuchen Landsleute vor dem Kriegsdienst zu fliehen. Nicht wenige, wie eine Recherche der BBC jetzt herausgefunden hat.

Demnach seien 20'000 Ukrainer bereits geflohen, und weitere 21'000 hätten es versucht, wurde aber geschnappt. Viele seien über die Grenzen im Süden marschiert. Besonders Rumänien und Moldau scheinen bei den Flüchtenden beliebt zu sein. Sie gehen auf eigene Faust los oder bezahlen Schleuser. Reporter der BBC waren mit Grenztruppen in der Ukraine und in Moldau unterwegs. Wladislaw, ein 22-jähriger Grenzsoldat, sagt, dass es ständige Versuche gebe, nach Rumänien zu kommen.

Nach ukrainischem Kriegsrecht ist es Männern unter 60 Jahren untersagt, das Land zu verlassen, wenn sie keine Befreiung vom Militärdienst haben. Wer erwischt wird, kann mit bis zu acht Jahren Gefängnis rechnen. Der gefragte Soldat sagt, dass in seinem Bereich allein seit Kriegsbeginn 4'000 Männer gestoppt wurden, als sie nach Rumänien übertreten wollten. Doch an anderen Orten seien die Zahlen noch höher.

Schon 19 Tote aus Grenzfluss geholt

Ein moldawischer Grenzbeamter, der gerade zwei Ukrainer festgenommen hat, sagt im BBC-Bericht: «Im Durchschnitt kommen 20 Ukrainer pro Tag». Und das sind nur diejenigen, die man an der 1'200 Kilometer langen Grenzen auch verfolgen kann. Etwa 11'000 Personen seinen bereits nach Moldau geflohen. Ungefährlich ist das nicht: Ein Grenzbeamter berichtet den britischen Journalisten, dass bei Regen der Tisar-Grenzfluss anschwellen kann, manchmal innerhalb einer Stunde. Viele, die vor dem Überqueren gefasst wurden, hätten den Beamten später gedankt. Insgesamt habe man bereits 19 Tote gefunden.

Wer flieht, tut dies nicht nur aus Angst vor einem Fronteinsatz. Jewgeni, 37, erzählt den Reportern, dass seine Familie schon in England sei und er auch auf dem Weg sei. Er könne kaum noch in der Ukraine überleben, die Preise seien hoch, es gebe kaum Arbeit.

Schleuser werben auf Telegram

Viele machen sich in der Nacht auf den Weg zur Grenze, können aber mit Nachtsichtgeräten und Wärmekameras aufgespürt werden. Um dennoch einen sicheren Weg zu haben, suchten sie Waldgebiete auf. In Telegram-Gruppen tauschten Flucht-Interessierte Erfahrungen aus und geben Tipps. Das gibt es aber nicht umsonst: Bis zu 3'000 US-Dollar hätten sie gezahlt, berichten Zeugen der BBC.

Ukraine Grenzbeamte (Symbolbild): Sie schauen nicht nur nach Eindringlingen, sondern auch nach Deserteuren.
Ukraine Grenzbeamte (Symbolbild): Sie schauen nicht nur nach Eindringlingen, sondern auch nach Deserteuren.Bild: Vyacheslav Madiyevskyy via www.imago-images.de

Wer sich nicht auf den beschwerlichen Weg zu einer der Grenzen machen will, kann sich auch auf andere Weise vor dem Militärdienst drücken: mit Geld. Nach BBC-Recherchen sollen Bestechungen helfen, ein Dokument zur Befreiung vom Militärdienst zu bekommen. Korruption ist noch immer weit verbreitet in der Ukraine und einer der Punkte, die immer wieder bei Gesprächen zu einem EU-Beitritt angesprochen wurden.

Die ukrainische Regierung scheint zumindest bei den Militärposten aufräumen zu wollen. Die Behörden untersuchen 260 Strafverfahren wegen mutmasslicher «Verstösse» bei militärischen Rekrutierungsbüros, teilte Ende Oktober das «State Bureau of Investigations» (SBI) mit. Präsident Wolodymyr Selenskyj entliess im August die Leiter regionaler Rekrutierungszentren, nachdem Vorwürfe wegen kriminellen Missbrauchs und Korruption erhoben worden waren.

Nach Angaben des SBI seien 21 Anklagen gegen 35 Personen an das Gericht übermittelt worden und weitere 58 Personen seien als Verdächtige identifiziert worden. Es hiess ausserdem, es habe mutmassliche Bestechungsgelder im Wert von rund 110'000 US-Dollar dokumentiert und die Gerichte hätten Eigentum im Wert von rund 88'000 US-Dollar beschlagnahmt. Insgesamt sollen es bereits 7'000 Männer sein, die wegen gefälschter Papiere festgenommen wurden.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (Archivbild) versucht, die Korruption bei den Rekrutierungsämtern einzudämmen.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (Archivbild) versucht, die Korruption bei den Rekrutierungsämtern einzudämmen.Bild: Michael Kappeler/dpa/dpa-bilder

In einer Erklärung gegenüber dem Nachrichtenportal RBC-Ukraine sagte der Sprecher des Staatsgrenzdienstes Andriy Demchenko, er könne die Richtigkeit der BBC-Recherchen nicht beurteilen, da er keinen Zugang zu den von diesen Nachbarländern erstellten Statistiken habe. Er wies darauf hin, dass die Ukraine umfassende Massnahmen umsetze, um illegale Grenzübertritte zu verhindern, räumte jedoch ein, dass die Versuche während der Zeit des Kriegsrechts erheblich zugenommen hätten.

Nach Angaben des Grenzdienstes wurden in diesem Zeitraum fast 300 kriminelle Gruppen und Einzelpersonen aufgedeckt, die sich auf den illegalen Transport von Menschen über die Grenze spezialisiert hatten.

Männer können sich Posten aussuchen

Wer das Land nicht verlassen will und keine Ausnahme bekommt, hat noch eine andere Möglichkeit: Kriegstüchtige können sich nämlich zu einem gewissen Grad aussuchen, welchen Dienst sie antreten. Über die Plattform «Lobby X» können sie sich bei Brigaden bewerben, die ihren Fähigkeiten entsprechen. Damit will nach einem Bericht des Magazin Politico die ukrainische Regierung vor allem Freiwillige dazu bringen, sich zum Dienst zu bewerben. Doch auch das scheint nicht einfach: So berichtete Oleksandr Antonow, Mitglied der Sanitätseinheit der 112. Brigade, dass er zwar eine Bestätigung erhalten habe, die Rekrutierer ihn aber zunächst an einem anderen Ort einsetzen wollten.

Der Trend, sich direkt auf einen Job oder ein Regiment zu bewerben, wurde nach dem «Politico»-Bericht auch durch die Aufdeckung der Korruptionsskandale in den offiziellen Rekrutierungszentren beschleunigt. Aber nicht alle Offiziere sind begeistert von dem angebot, dass Verteidigungsminister Rustem Umerov erst vor einer Woche bis 2028 verlängerte.

Erfahrene ukrainische Soldaten sind jedoch der Meinung, dass es bei einem Krieg solchen Ausmasses ein Luxus sei, eine solche Entscheidungsfreiheit zuzulassen. «Kommandeure wissen besser, welche Berufe sie brauchen und wo sie ihre Leute einsetzen müssen, um sie optimal zu nutzen. Sie sind die Einzigen, die das Gesamtbild sehen», sagte Borys Donchanin, ein ukrainischer Soldat der 67. Mechanisierten Brigade.

«Die Ungewissheit darüber, was eine Person im Falle einer Mobilisierung erwartet, ist ein grosses Hindernis. Wenn es um den Militärdienst geht, wollen die meisten Menschen nicht Lotto spielen, sondern ihre eigenen Entscheidungen treffen», sagte Olha Bandrivska von Lobby X. Ob diese in Zukunft auch die Zahlen derer, die das Land verlassen, senken wird, bleibt abzuwarten.

Verwendete Quellen:

  • reuters.com: "Ukraine investigates 260 cases of alleged military recruitment abuses" (englisch)
  • youube.com: "The Ukrainian men fleeing the draft: ‘Not everyone is a warrior’ - BBC World Service Documentaries" (englisch)
  • kyivpost.com: "Border Service Responds to BBC Report on Ukrainian Draft Dodgers"
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68 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MartinZH
19.11.2023 13:17registriert Mai 2019
Selbstverständlich gibt es in jedem Krieg Deserteure und die Gründe sind vielfältiger Natur. Dass ein Land, das für die Souveränität kämpft, dagegen vorgeht, liegt auf der Hand.

Trotz der Zahlen handelt es sich in der UA aber noch immer um eine Minderheit (~20'000 / Jahr bei einer 40-Mio.-Bevölkerung). Die Mehrheit will ihr Land und ihre Heimat verteidigen.

Wer daraus eine "Kriegs-Müdigkeit" ableiten will, kann dies tun, ignoriert aber die Grössenordnung und redet im Prinzip nur "Putins Plan des längeren Atems" das Wort.

Die UA tut ALLES dafür, alle (Zivilisten UND Sdt) im Land zu schützen.
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FACTS
19.11.2023 16:32registriert April 2020
Auch in der Schweiz würden nicht alle kämpfen und töten wollen, weshalb es hierzulande auch einen zivilen Ersatzdienst gibt. Ich bin selbst Zivi und würde im Kriegsfall aus mehreren Gründen kaum zur Waffe greifen. Ich verstehe die Deserteure (von denen es zum Glück auch auf russ. Seite viele gibt) und für mich ist Pazifismus eine Haltung, kein Makel.
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Jörg Wirz
19.11.2023 11:56registriert Dezember 2017
Viele Spezialisten haben schon lange analysiert, dass dieser Krieg ein Abnützungskrieg wird und kaum Landgewinne zu machen sind, kämpfen an Ort und Stelle. Dies bei einem extrem hohen Blutzoll und einem riesigen Leid auf beiden Seiten. Die einzigen die gewinnen sind die Rüstungskonzerne, dort rollt der Rubel bei der riesigen Materialschlacht. Die Kosten sind immens und der Westen wird langsam kriegsmüde. Deutschland hat keine Ahnung wie es das kommende Budget ausgleichen soll, es fehlen 60 Mia. So kann das nicht weitergehen. Jetzt sind kluge Köpfe gefragt ausserhalb der Kriegslobby.
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