Während die Welt auf die Frühjahrsoffensive der Ukraine wartet, passierte etwas ganz anderes, völlig Unerwartetes: Soldaten marschierten von der Ukraine aus auf russisches Territorium in der Region Belgorod nördlich von Charkiw. Dort sollen sie mehrere Dörfer attackiert und womöglich eingenommen haben.
Zwei Gruppierungen reklamieren die Aktion für sich.
Der ukrainische Geheimdienst gab bekannt, dass die Gruppen «eine Operation durchgeführt haben, um eine ‹Sicherheitszone› zum Schutz der ukrainischen Zivilbevölkerung zu schaffen». Nebenbei haben die Soldaten mit ihrer Aktion die Verwundbarkeit Russlands demonstriert.
Das wissen wir über die beiden Gruppierungen:
Die «Legion der Freiheit Russlands» (Легион «Свобода России») ist eine russische paramilitärische Gruppierung, die in der Ukraine stationiert ist. Gemäss der privaten ukrainischen Nachrichtenagentur UNIAN hat sich die «Legion der Freiheit Russlands» im Februar 2022 aus über 100 russischen Soldaten gebildet, die freiwillig auf die ukrainische Seite überliefen. Zu Beginn dieses Jahres gab Radio Free Europe/Radio Liberty die Zahl der Mitglieder mit bis zu 4000 an. Der ukrainische Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch sprach im Juni vergangenen Jahres von mehreren Hundert Soldaten. Die genauen Zahlen sind nicht bekannt.
Am 5. April 2022 traten drei Mitglieder der Einheit in Kiew bei einer Pressekonferenz auf – alle mit einer Sturmmaske vermummt –, um andere russische Soldaten zum Überlaufen aufzufordern.
Einer der Soldaten sagte, dass die Gräueltaten in Butscha, Irpin und Charkiw für ihn den Ausschlag gegeben hätten, überzutreten. «Ich habe beschlossen, mich der ‹Legion der Freiheit Russlands› anzuschliessen, um gegen Putins Regime sowie für eine Zukunft für unsere Kinder und Enkelkinder zu Hause zu kämpfen.»
Mittlerweile sollen die Soldaten eine Ausbildung in Kiew durchlaufen haben und ein regulärer Teil der Territorialverteidigung der Ukraine sein, wie die «New York Times» schreibt. Sie wären somit direkt dem ukrainischen Generalstab unterstellt. Die «New York Times» informiert weiter, dass die Soldaten der «Legion der Freiheit Russlands» immer in einer Gruppe unter ihresgleichen seien, aber von ukrainischen Offizieren beaufsichtigt würden.
Die amerikanische Zeitung hat Soldaten der Einheit im Februar dieses Jahres getroffen. Die Protagonisten der Reportage werden so eingeführt:
Ein Soldat mit dem Rufnamen Caesar – der Sprecher der Einheit – erklärt: «Meine Aufgabe besteht nicht nur darin, das Volk der Ukraine zu schützen.» Seine Pläne gingen weiter: Sollte er nach dem Krieg noch am Leben sein, werde er sich weiter für den Sturz des Kreml-Regimes engagieren.
«Ich konnte nicht einfach zusehen», sagt Caesar gegenüber Radio Free Europe/Radio Liberty. Seine Kinder hätten geweint, als Russland die Ukraine angegriffen habe. Er habe ihnen daraufhin versprochen, dass die Ukraine gewinnen werden, und sofort versucht, sich für die ukrainische Fremdenlegion zu melden. Doch diese hätten zu Beginn des Krieges keine Russen aufgenommen. «Als die ‹Legion der Freiheit Russlands› dann gegründet wurde, habe ich mich beworben, einige Hintergrundüberprüfungen durchlaufen und bin hier gelandet», ergänzt er.
Caesar lässt kein gutes Haar an den Soldaten, die auf der Seite Russlands kämpfen. Im Unterschied zu denen sei er ein «echter russischer Mann». Einer, wie ihn Tolstoi und Dostojewski besungen hätten. Die anderen hingegen seien keine Russen, sagt er gegenüber der «New York Times».
Join the ether of Suspilne with Caesar!
— "Liberty of Russia" Legion (@legion_svoboda) March 31, 2023
Присоединяетесь к эфиру с Цезарем про получение иностранными военными украинского гражданства:https://t.co/dLI9bC9Vec pic.twitter.com/LR9R6byOeH
Seit dem März 2022 hat die «Legion der Freiheit Russlands» einen eigenen Telegram-Auftritt sowie einen Twitter-Kanal. Auf beiden Netzwerken wird regelmässig dazu aufgerufen, sich dem bewaffneten Kampf gegen den «Kriegsverbrecher Putin» anzuschliessen.
To the novice, war seems like hell and chaos, but after a while all its sounds line up in an ensemble, where the calibres are arranged according to the notes.
— "Liberty of Russia" Legion (@legion_svoboda) November 28, 2022
No one is born a soldier. Poets, teachers, genuises are born. Soldiers are made to defend poets, teachers and genuises. pic.twitter.com/qziaOfwh1w
Die Legion veröffentlichte auf ihrem Telegram-Kanal bereits am Freitag eine Meldung, dass sie das winzige Grenzdorf Konzinka eingenommen habe und nun auf Graivoron marschieren werde.
Auf vielen Beiträgen ist zu sehen, dass die Einheit ukrainische Uniformen trägt. Zudem präsentieren die Soldaten häufig ein Klett-Abzeichen am Ärmel mit einer weiss-blauen Flagge. Diese Flagge gelte unter Partisanen als Symbol des Widerstands gegen die Invasion der Ukraine, so die britische Zeitung «Metro».
Preparing to hoist the flag of freedom over the Kremlin towers.
— "Liberty of Russia" Legion (@legion_svoboda) April 26, 2023
Have a good day! pic.twitter.com/0BYpZGUZVu
Im Februar reichte die russische Generalstaatsanwaltschaft beim Obersten Gerichtshof des Landes Klage ein, um die Legion als «terroristische Organisation» einstufen zu lassen.
Neben der «Legion der Freiheit Russlands» soll auch das «Russische Freiwilligenkorps» an der Aktion beteiligt gewesen sein. Dieses wurde von Denis Nikitin gegründet – der eigentlich Denis Kapustin heisst. Im «Russischen Freiwilligenkorps» kämpften ausschliesslich «ethnische Russen», wie Nikitin sagt.
Es ist nicht klar, ob das «Russische Freiwilligenkorps» die Unterstützung der ukrainischen Armee oder Regierung geniesst. Im Oktober 2022 veröffentlichte das «Russische Freiwilligenkorps» zwar ein Manifest, in dem es sich als «Teil der Streitkräfte der Ukraine» bezeichnete. Doch ukrainische Beamte haben die Verbindungen des Militärs zu der Gruppe nie bestätigt.
Nikitin hat einen zwielichtigen Ruf. Der Russe lebte ab 2001 für mehrere Jahre in Deutschland, bevor das Land ihm wegen seiner rechtsextremen Aktivitäten die Aufenthaltsbewilligung entzog. Danach kehrte er zurück nach Russland, wo er die rassistische Kleidermarke White Rex gründete, die etwa T-Shirts mit der Aufschrift «SS for Sweet n' Sexy» vertrieb. Zudem machte er – wie bereits in Deutschland – als Fussball-Hooligan von sich reden. 2017 soll es ihn in die Ukraine gezogen haben, wo er sich in der rechtsextremen Szene engagierte und MMA unterrichtete. Diesen Lebenslauf skizzieren sowohl die kremlkritischen Newsportale «Meduza» und «The Moscow Times» als auch der britische «Guardian» oder der «Telegraph».
Der Extremismusexperte Robert Claus bezeichnete Nikitin 2017 gegenüber Vice als «eine Schlüsselfigur unter den Rechtsextremisten in Europa» und «einen der gefährlichsten Neonazis des Kontinents».
Über das «Russische Freiwilligenkorps» ist nicht viel bekannt, ausser dass Nikitin es letzten August mit dem Ziel ins Leben gerufen hatte, Menschen in Russland zu rekrutieren, um «den kahlköpfigen Verrückten zu bekämpfen, der Horden kaukasisch-asiatischer Mörder» in die Ukraine geschickt hat. Hier scheint seine nationalsozialistische Einstellung durch: Er will die weissen Ukrainer vor den nicht weissen Russen beschützen. Dazu passt auch, dass er bereits in der Vergangenheit die multiethnische Zusammensetzung der russischen Gesellschaft kritisiert hatte.
Anfang März sollen Nikitin und seine Anhänger bereits einmal in ein russisches Dorf in der Region Brjansk eingefallen sein, wie der russische Geheimdienst FSB damals berichtete. In der Folge wurde er auf die russische Terrorliste gesetzt. Was genau damals in Brjansk passierte, ist unklar. Russische Propaganda-Portale berichteten davon, dass Nikitin und seine Männer Geiseln genommen, eine Tankstelle in die Luft gejagt und auf einen Schulbus geschossen hätten. Bezirksbeamte konnten all dies gegenüber «Meduza» jedoch nicht bestätigen.
Kurz nach den Berichten erschienen auf dem Telegram-Kanal des «Russischen Freiwilligenkorps» zwei Videos, die bewaffnete Männer zeigten, welche erklärten, dass sie sich «nicht im Krieg mit der Zivilbevölkerung» befänden. Sie forderten «normale russische Bürger» auf, «sich zu erheben und zu kämpfen».
Interessanterweise hat Nikitin gemäss «Meduza» erst kürzlich noch erklärt, dass man aufgrund «verschiedener ideologischer Differenzen» niemals mit der «Legion der Freiheit Russlands» arbeiten werde. Mutmasslich hat der russische Neonazi, der in der Ukraine kämpft, seine eigenen Worte gebrochen, um «die Ukrainer vor echten Faschisten zu schützen», wie er es vor einer Woche gegenüber der «Financial Times» formulierte.