Die Altstadt der Hafenstadt Odessa gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Sie hat trotz des Kriegs nur wenig von ihrem mediterran wirkenden Charme verloren. Errichtet wurde der Stadtkern auf Befehl der russischen Zarin Katharina der Grossen Ende des 18. Jahrhunderts – im Schachbrettmuster.
Zwar haben russische Raketen die imposante Verklärungskathedrale stark beschädigt und das moderne, aber potthässliche Hochhaus «Hotel Odessa» unten am Hafen zerstört. Dennoch gehen die Odessianer ihren Geschäften nach, als ob nichts passiert wäre. Auch die berühmte Oper, ein Prunkstück der Stadt, bietet immer noch Vorstellungen an. Das Nachtleben geht ebenfalls weiter, einfach zeitlich etwas vorverschoben, weil um Mitternacht die Ausgangssperre beginnt.
Wir sitzen im Wintergarten eines Restaurants, das Abendessen ist verspeist, kein Luftalarm stört die entspannte Stimmung. Angestellte des Restaurants haben gerade erst die Weihnachtsdekoration angebracht. Plötzlich ist das Stakkato der Flugabwehr zu hören.
Lichtstrahlen von Scheinwerfern tasten den Nachthimmel ab, auf der Suche nach den schwarzen russischen Geran-Drohnen. Wegen ihres lärmigen Propellermotors werden sie von den Ukrainern abschätzig als Mopeds bezeichnet. Das russische Wort «Geran» bedeutet Geranie. Russland macht sich einen Spass daraus, viele seiner Waffen nach Blumen zu benennen, zum Beispiel Gerbera, Pfingstrose, Malve oder Tulpe.
Herkunft der «Geranie» ist aber eigentlich der Iran, wo der Flugkörper Schahid, also Märtyrer, heisst. Das ist treffend, denn beim Aufprall am Boden explodiert der schätzungsweise 50 Kilogramm schwere Gefechtskopf. Heute werden die kleinen Flugzeuge auch in Russland in Lizenz gefertigt.
Am Himmel ist inzwischen ein wahres Feuerwerk aus Leuchtspurgeschossen und vereinzelten gelben Punkten von Flugabwehrraketen entbrannt. Die Drohnen kommen meist von der nahen Halbinsel Krim übers Meer nach Odessa. Der Hafen, über den die Ukraine einen Teil ihres Getreides exportiert, gehört zu den bevorzugten Zielen, aber auch Regierungsgebäude oder die Energieinfrastruktur der Stadt. Wie die meisten russischen Abstandswaffen sind die «Geranien» aber nicht besonders präzise. Sie krachen auch häufig in Wohnquartiere ohne militärische Bedeutung.
Wir hören nun erstmals den Zweitaktmotor einer «Geranie», sie fliegt für uns unsichtbar am Restaurant vorbei und detoniert in einiger Entfernung. Das Schau- beziehungsweise Hörspiel wiederholt sich mehrfach. Immer kurz vor dem Aufschlag geben sich die Schützen der Flugabwehrkanonen und der auf Pick-ups montierten schweren Maschinengewehre noch ein letztes Mal alle Mühe, die Drohne doch noch abzuschiessen. Das Stakkato verstärkt sich und ebbt sofort nach dem Einschlag ab – bis zur nächsten Drohne.
Nach wie vor sind Autos und Passanten auf der Strasse unterwegs. Manche Odessianer beobachten in solchen Momenten ihre Handy-Bildschirme. Private Kanäle auf dem Nachrichtendienst Telegram erklären den Menschen, welche Zahl von Drohnen oder ballistischen Raketen gerade mit Kurs auf Odessa unterwegs sind und wann deren Ankunft zu erwarten ist. Die Gefahr durch Drohnen nehmen viele Bewohner nicht so ernst, weil die Zweitaktmotoren der «Geranien» frühzeitig zu hören sind. Bei ballistischen Raketen gibt es kaum Vorwarnzeit. Deren Gefechtsköpfe sind rund zehnmal so gross – und entsprechend tödlicher.
Immer wieder sind nun schwere Detonationen zu hören, immer dann, wenn eine «Geranie» oder ein russischer Marschflugkörper explodiert. Indem die Russen Drohnenschwärme vorausschicken, denen dann grosse Raketen oder Marschflugkörper folgen, versuchen sie die ukrainische Luftverteidigung zu verwirren und zu überlasten. So kommen immer wieder Flugkörper durch das Abwehrfeuer hindurch.
Als wir dem Feuerwerk auf der Strasse stehend zusehen, nähert sich erneut das Dröhnen einer «Geranie». Dann stürzt sie sich auf ihr Ziel, hörbar am aufheulenden Motor, dessen Propeller durch die Beschleunigung durchdreht. Das Geräusch erinnert ein bisschen an das Heulen der deutschen Sturzkampfbomber im Zweiten Weltkrieg. Nun ist es höchste Zeit, sich ins Hausinnere zu begeben. Noch während ich die Türe öffne, explodiert die «Geranie» am Ende der Strasse, direkt um die Ecke. Ein gelber Blitz durchdringt die Nacht. Glasscherben des Wintergartens in dem wir noch kurz zuvor sassen, fliegen durch die Luft, und ein paar Holzlatten der Aussenverkleidung werden durch die Druckwelle aus der Verankerung gerissen.
Minuten später beginnen Mitarbeiterinnen des Restaurants, die Glasscherben zusammenzukehren. Sie kichern und wirken gut gelaunt – ein Phänomen, das ich schon in Kriegen überall auf der Welt gesehen habe, wenn Menschen eine Gefahrensituation ohne Schaden überlebt haben.
Ein Krankenwagen braust heran, während eine weitere «Geranie» explodiert. Auch die Feuerwehr kommt und verlegt Schläuche. Getroffen wurde eine Konzerthalle in einem prunkvollen, neoklassizistischen Gebäude. Die Anwohner wirken gefasst. Hier sind schon früher Raketen oder Marschflugkörper eingeschlagen. Später werden die Behörden eine Tote und zehn Verletzte melden. Wir haben genug gesehen und ziehen uns zurück in unser unscheinbares Hotel am Stadtrand, wo keine «Geranien» zu erwarten sind. (aargauerzeitung.ch)
Mir kommt der russische Gnom in Moskau immer mehr vor, wie die Reinkarnation von A.H. aus dem dritten Reich.