Das Wichtigste zu Beginn: Wie geht es Ihnen?
Hmmm... Das ist eine schwierige Frage. Diese Woche war sehr anstrengend, auch wenn ich das Gefühl habe, dass meine Arbeit einen Sinn hat, indem sie Fakten aufzeigt und den Opfern eine Stimme verleiht. Für mich persönlich war es eine harte Zeit.
Können Sie mir erzählen, unter welchen Umständen Sie nach Butscha gekommen sind?
Wir kamen am Sonntagmorgen an, nachdem wir unsere Reportage für «Mise au point», die am selben Abend ausgestrahlt wurde, zusammengestellt hatten. Nachdem wir in Kiew angekommen waren, wollten wir als erstes über Irpin berichten. Aus diesem Vorort, der für seine schweren Bombenangriffe bekannt ist, waren Tausende von Zivilisten geflohen. Wir hatten mehrmals vergeblich versucht, dorthin zu gelangen: Dienstag, Mittwoch... Aber wegen der Bombardierungen war es nie möglich. Das Thema war also schon lange in Arbeit.
Als wir schliesslich am Sonntagmorgen zurückfahren wollten, sah ich ein Video von einem ukrainischen Militär. Es zeigte erschossene Zivilisten in Butscha, deren Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Die Echtheit der Bilder war zunächst unklar. Doch es zeigte sich dann, dass das Video echt ist. Wir machten uns also auf den Weg in die Stadt Butscha. Aufgrund der Ausgangssperre dauerte es eine Weile, bis wir sie erreichten. Schliesslich gelang es uns auch, die zahlreichen Checkpoints zu passieren.
Ihr erster Eindruck vor Ort?
Wir sind auf eine der Hauptstrassen gestossen. Auf dieser Strasse war es ein Albtraum. Überall lagen Leichen. Das war extrem beunruhigend. Man hatte das Gefühl, dass diese armen Menschen einfach abrupt gestoppt worden waren, mitten im Geschehen. Ich sehe immer noch den Mann neben seinem Fahrrad. Und in der Umgebung schlenderten die Passanten weiter. Ich ging hin und fragte den ersten Mann, den ich sah, was passiert war. Da sah ich, wie sein Gesicht buchstäblich versteinerte. Er machte auf dem Absatz kehrt, als würde ich ihn – und das war es tatsächlich – um das Schwierigste der Welt bitten, nämlich mir alles zu erzählen. Zunächst wollte er nur eine Zigarette.
Wer sind die Menschen, die in Butscha geblieben sind?
Ein grosser Teil der Menschen ist dort geblieben. Einige konnten nicht fliehen. Andere wollten nicht. Für Alexander Konovalov zum Beispiel, mit dem ich einen Teil des Tages verbracht hatte, kam es nicht in Frage, zu gehen. Er wollte sich um seine Mutter kümmern, die älteren Bewohnern und den Tieren weiterhin Essen bringen. Seine Rolle war dort. Aber es gab noch viele andere Menschen. Ich denke auch an einen elfjährigen Jungen, den ich gestern Morgen getroffen habe.
Wie reagieren die Einwohner auf Ihre Anwesenheit? Wie schnell sind sie bereit, zu reden?
Mit Ausnahme des ersten Mannes, der bei unserer Ankunft anwesend war und nicht reden konnte, wollten alle mit uns reden. Leider hatte jeder die gleiche Art von Geschichte zu erzählen. Am Sonntag war es das erste Mal, dass sie Leute von aussen kommen sahen. Man hatte fast ein bisschen das Gefühl, als würden wir als Psychiater fungieren. Sie wollten alle erzählen. Es war sehr schwer. Unter ihnen berührte mich ein sehr kräftiger Typ, ein grosser Mann von etwa 45 Jahren. Er war empört und gerührt, total traumatisiert. Er hatte während der 36-tägigen Besatzung in seinem Keller gelebt. Die Russen hatten zwei seiner Mieter getötet. Er begrub sie am Rande des Gebäudes vor dem Keller.
In einer Szene, die in der Sendung «19h30» ausgestrahlt wurde, sieht man, wie Sie eine ältere Dame in den Arm nehmen, die gerade ihren Sohn verloren hat. Sie scheinen sehr erschüttert zu sein. Wie können Sie sich schützen?
Ich weiss nicht... Es ist eine ungewöhnliche Geste. In diesem Fall hatte sie drei Minuten lang meine Hand gehalten. Sie weinte und erzählte und erzählte und erzählte... Ich nahm sie spontan in den Arm. Das war sehr stark. In meinen Armen erzählte sie weiter. Wir beschlossen, die Szene so zu belassen. Es ist schwierig, distanziert zu sein. Es wäre sogar unangemessen.
Wie ist Ihr Tag verlaufen?
Heute sind wir nach Borodyanka gefahren. Wir sind früh losgefahren, um dort zu filmen, weil wir Hinweise von Quellen und dem Generalstaatsanwalt bekommen haben. Es war tatsächlich völlig zerstört. Vor Ort sammelten wir mehrere Zeugenaussagen von Jugendlichen, die Hinrichtungen durch Russen beobachtet hatten. Man stellte am ersten Tag keine so katastrophale Situation wie in Butscha fest, was Kriegsverbrechen, Übergriffe und Hinrichtungen betraf. In Butscha hatte man das Gefühl, dass jede Aussage jemanden betraf, der einem nahe stand. In Borodynka fanden wir vor allem eine fast völlig zerstörte Stadt vor.
Wie sieht Ihr Tagesablauf vor Ort aus?
Jeden Morgen treffe ich mich mit Jon Björgvisson, der für die Kamera und den Schnitt zuständig ist. Wir arbeiten seit etwa 20 Jahren zusammen. Wir treffen uns mit Alexandre, unserem Dolmetscher. Er ist ein toller Fixer, und das sage ich nicht nur, weil er neben mir sitzt! (Lacht) Ich habe 2004 zum ersten Mal mit ihm gearbeitet. Und dann gibt es noch Andrej, der unser Fahrer ist. Wir vier treffen uns früh am Morgen. Wir sind eine Stunde vor den anderen da. Dann gehen wir los, um zu drehen. Entweder wir drehen den ganzen Tag bis zur Ausgangssperre um 21 Uhr oder wir gehen etwas früher ins Hotel nach Kiew, um das Thema zu schneiden und es den Sende-Verantwortlichen von «19h30» zu schicken.
Wo schlafen Sie?
Wir wohnen in einem Hotel in Kiew. Unser Zimmer hat den Vorteil, dass es direkt am Maidan-Platz liegt und einen Balkon hat. Wir können also von dort aus Live-Auftritte machen. Das ist sehr bequem. Ausserdem ist es in vielen Hotels verboten, nach 20 Uhr das Licht einzuschalten, was für eine Duplex nicht sehr praktisch ist. Hier funktioniert es. Man trifft Journalisten aus allen Ländern, sowie ukrainische Soldaten und manchmal auch humanitäre Helfer.
Die Frage klingt vielleicht belanglos, aber was essen Sie?
Es gibt ein Frühstück im Hotel. Ansonsten kaufen wir uns selbst etwas. Unsere wichtigste Anlaufstelle ist die Tankstelle, einer der wenigen Orte, an denen es noch Essen zu kaufen gibt. Es hat auch ein paar Supermärkte. Die Geschäfte sind aber nicht so oft geöffnet. Aber Kiew wird mit Lebensmitteln versorgt, daher ist das in der Innenstadt kein Problem. In Butscha hingegen war zum Beispiel alles geschlossen. Die Leute hatten wirklich Hunger.
Was sind Ihre Pläne für die nächsten Tage?
Ich weiss es noch nicht. Wir sind im «Tag-für-Tag»-Modus.
Haben Sie Angst?
Hm... nein, ich habe keine Angst. Die grösste Gefahr besteht darin, auf eine Mine zu treten. Es gibt tatsächlich viele Minen, die von den Russen gelegt wurden. Das ist zumindest das, was uns die Ukrainer versichert haben. Das ist natürlich die grösste Angst. Im Übrigen sind die Kämpfe weit entfernt. Es besteht nicht wirklich eine unmittelbare Gefahr. Aber unversehrt kommt man hier trotzdem nicht davon. Es ist schwer, die Leichen zu sehen und die Menschen zu hören. Die Zeugenaussagen sind das Schwierigste. Wenn die Menschen erzählen, geht es einem unter die Haut.