Die Bilder aus Butscha haben am Wochenende die Welt schockiert. Am Samstag sollen sich die russischen Truppen zurückgezogen haben, nachdem sie den Vorort von Kiew über einen Monat lang besetzt hatten. Mehr und mehr Berichte von Überlebenden werden nun publik. Gegenüber Reporterinnen und Reportern von englisch- und deutschsprachigen Medien erzählen sie von dem Horror, den sie erlebt haben.
Quellen: Die folgenden Erzählungen von Ukrainerinnen und Ukrainern aus Butscha entstammen Medienberichten. Antonina Pomazanko, Svitlana Munich, das Ehepaar Dawidowytsch und der Gerichtsmediziner Serhiy Kaplishny erzählten ihre Erlebnisse der US-Zeitung New York Times. Mariya Zhelezova und Bürgermeister Anatoly Fedoruk berichteten gegenüber der deutschen Zeitung Spiegel und Larissa sowie Onkel Hrysha gegenüber dem britischen Nachrichtensender BBC.
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Am ersten Tag der Invasion sei ihre Tochter von russischen Soldaten erschossen worden, erzählte Antonina Pomazanko. «Sie fuhren die Straße hoch», sagte sie. «Meine Tochter dachte, es wären unsere Leute und ging raus, um zu schauen.»
Doch es handelte sich nicht um ukrainische Soldaten. Die Russen eröffneten das Feuer auf Frau Pomazanko. Die Kugeln durchschlugen das Holztor und den Zaun und töteten die 56-Jährige auf der Stelle.
Ihre Leiche lag am letzten Sonntag immer noch im Garten. Die 76-jährige Mutter versuchte, sie so gut es ging mit Plastikplanen und Holzbrettern zuzudecken. «Es gab so viel Beschuss, dass ich nicht wusste, was ich tun sollte», sagte Pomazanko. Die Füsse der toten Frau guckten in Wollsocken und Galoschen gekleidet unter den Brettern hervor, neben dem Weg, auf dem sie gestanden hatte.
Svitlana Munich, eine ehemalige Klassenkameradin der Verstorbenen, stand in der Nähe und weinte. «Sie erschossen jeden, den sie sahen», sagt sie über die Russen.
Auch Iryna Kostenko musste ihren Sohn im Garten begraben. Russische Truppen hätten ihn auf offener Strasse erschossen. «Mein Sohn war 27 Jahre alt, er wollte leben», sagte sie. «Der Schmerz ist so schlimm. Jetzt bin ich allein.»
Nachdem die russischen Soldaten ihren Sohn getötet hatten, flüchtete Frau Kostenko. Als sie zurückkam, waren ihr Haus und ihr Garten verwüstet. Müllberge mit Wodkaflaschen, Jack Daniels und Bier haben sie zurückgelassen. «Die Russen hatten eine gute Zeit hier», kommentiert der BBC-Reporter im Video.
Desperately sad story from just outside Kyiv, about a woman called Iryna whose son was killed by Russian soldiers. We were the first outsiders she'd seen since the Russians left her village on Friday. Shot and edited by @leedurant. Produced by @producerkathy pic.twitter.com/vKE1tjL1kf
— Jeremy Bowen (@BowenBBC) April 3, 2022
Mariya Zhelezova ist noch unter Schock. Die ältere Dame aus Butscha ist froh, noch am Leben zu sein. «Ich hatte solche Angst. Zweimal bin ich knapp dem Tod entgangen. Einmal schlug eine Kugel in das Fenster ein, zerbrach das Glas und traf den Schrank.» Ein weiteres Mal sei Zhelezova zu Fuss unterwegs gewesen, ohne zu merken, dass «einer mit einem Maschinengewehr» in der Nähe war. «Er schoss, verfehlte mich aber.»
Auch Vitaly Sinadin fürchtete um sein Leben. Zwei Tage lang sei er in einem Haus, das von den russischen Streitkräften als Stützpunkt genutzt wurde, an eine Metallstange gefesselt gewesen. «Sie schlugen mich und fragten: ‹Wo sind die ukrainischen Soldaten?› und ‹Wer in der Stadt ist in der Territorialen Verteidigungsarmee?›», erzählte der 45-jähirge Bildhauer.
Sinadin vermutete darin eine Anspielung auf die ukrainischen Freiwilligeneinheiten, die in den ersten Tagen der russischen Invasion aus dem Boden schossen. Ausgedehnte, rot-schwarze Blutergüsse auf seinen Oberschenkeln und seinem Rücken stimmten mit seinen Schilderungen über die schweren Schläge überein.
Eine junge Frau namens Larissa führte durch die zerstörte Wohnung. Sie erzählte, wie die Russen systematisch die Türen eingebrochen hätten, um die Häuser zu plündern. Während sie Wertsachen und Essen stahlen, sperrten sie die Bewohnerinnen und Bewohner in ihre Keller.
So erging es auch dem Ehepaar Dawidowytsch. Sie wurden verdrängt, als die russischen Truppen ihr Haus beschlagnahmt hätten. «Wir saßen im Keller», sagte Roman Dawidowytsch. «Sie haben ein furchtbares Chaos angerichtet und Sachen gestohlen», ergänzt seine Frau Iryna. Hauptsächlich hätten die Soldaten Socken und T-Shirts mitgenommen, sagt sie. Aber ihr Mann zeigte, wo die Russen mit ihren Panzern zwei Tresore in den Hof gezogen und aufgebrochen hatten.
Die Dawidowytschs besitzen eine grosse, dreistöckige Villa an einer der Hauptkreuzungen in Butscha. Die russischen Truppen hätten von ihrem Haus aus auf die darunter liegenden Strassen gefeuert. «Sie haben geschossen, geschossen», sagt Iryna. «Ich habe viele russische Freunde, aber diese Männer waren nicht gut.»
Einige der russischen Soldaten seien in ihren 40ern gewesen und schienen erfahren zu sein. «Es waren auch Junge dabei», sagt Frau Davidovych. «Einer namens Vanya war erst 19 Jahre alt und erzählte uns, dass er davon träume, verwundet und nach Hause geschickt zu werden.»
Mit den jungen Männern hatte auch ein etwa 70-jähriger Einwohner von Butscha Mitgefühl. «Sie taten mir leid. Sie waren so jung, 18 bis 20, und hatten ihr ganzes Leben noch vor sich», sagte der Mann, der sich selber Onkel Hrysha nannte. Die jungen Soldaten seien weggelaufen und hätten darum gebettelt, nicht an die ukrainische Territorialverteidigung ausgeliefert zu werden.
Am Samstag kehrte Serhiy Kaplishny nach Butscha zurück. Der Gerichtsmedizinerer flüchtete am 10. März. Bevor er die Stadt verliess, habe er einen örtlichen Baggerfahrer beauftragt, ein Massengrab im Hof einer orthodoxen Kirche auszuheben. Ohne Strom für die Kühlung sei die Leichenhalle unerträglich geworden. «Es war ein Horror», sagte er.
Am Sonntag besuchte Kaplishny das Massengrab, das etwa ein Dutzend Meter lang und zwei Meter breit ist. Auf einem Haufen ausgehobener Erde waren Leichen gestapelt. In einer Ecke ragten zwei Paar Schuhe und ein Arm aus einer dünnen Schmutzschicht heraus, in einer anderen eine Hand. Oben auf dem Haufen war ein halbes Dutzend schwarzer Leichensäcke in die Grube gekippt worden.
Kaplishny habe etwa 30 weitere Leichen mit einem Lieferwagen abgeholt. Bei dreizehn von ihnen handelte es sich um Männer, deren Hände gefesselt waren und denen aus nächster Nähe in den Kopf geschossen wurden.
Ohne die Umstände ihres Todes zu kennen, glaube Kaplishny, dass es sich um Gefangene der Russen handle. Kurz vor dem Rückzug der russischen Armee aus Butscha seien sie getötet worden. «Sie waren Zivilisten», sagt der Gerichtsmediziner und zeigt Handyfotos von toten Männern in Zivilkleidung, deren Hände hinter dem Rücken gefesselt waren. Auf den Bildern lagen acht gefesselte Leichen in einem Innenhof und fünf in einem Keller. «Sehen Sie, dem wurde ins Auge geschossen», sagte Kaplishny.
Ingesamt 300 Menschen sollen die russischen Besatzer getötet haben, sagt der Bürgermeister von Butscha, Anatoly Fedoruk. «Auf der Yabluska-Straße liegen die Leichen hingerichteter Menschen. Ihre Hände sind mit weissen Tüchern auf dem Rücken gefesselt. Man hat ihnen in den Hinterkopf geschossen. Sie können sich vorstellen, welche Art von Kriegsverbrechen hier begangen wurde.»
Fedoruk ist froh, dass die russische Herrschaft über die Stadt jetzt zu Ende ist. «Eines Tages wird das geschichtlich aufgearbeitet werden. Mehr möchte ich jetzt nicht sagen. Jetzt sind wir alle erstmal total erleichtert.»
Präsident Wolodymyr Selenskyj stimmte dem zu. Bei seinem Besuch am Montag in Butscha sagte er: «Die Welt wird das als Genozid anerkennen.»
Die Frage eines Reporters, ob es nun immer noch möglich sei, mit Russland über Frieden zu verhandeln, bejahte der ukrainische Staatschef: «Die Ukraine muss Frieden bekommen», sagte er. Zugleich betonte er, ein baldiger Verhandlungserfolg sei in Russlands Interesse: «Je länger die Russische Föderation den Gesprächsprozess verzögert, desto schlimmer wird es für sie.» Moskau streitet die Schuld für den Tod der Zivilisten vehement ab.
Mit Material der sda.
(van)
Es gilt die Taten unabhängig und Wasserdicht zu erfassen und zu bestätigen, die Ausführenden sowie die Vorgesetzten anzuklagen und zu verurteilen.
Damit dürfen die Monster nicht durchkommen.
Als erstes gilt es aber den Wahnsinn zu stoppen.