Jetzt sind wir durchgefahren, durch den Tunnel. Er war 57 Kilometer lang, die Fahrt hat um die 20 Minuten gedauert. Es ging irgendwie schnell, irgendwie auch nicht. Es war dunkel, draussen vor den Scheiben, und drinnen war es hell wie immer. Die Leute haben während der Fahrt geschwatzt, gelacht, getrunken und auf ihren Handys rumgetippt. Das Leben hat einfach seinen Lauf genommen, am 1. Juni 2016, kurz vor 14 Uhr.
Wir haben das Jahrhundertbauwerk der Schweiz, die Neat, ziemlich anständig und bürgerlich eingeweiht. Wie es eben zur Schweiz gehört. Wir haben davor ein bisschen Bündnerfleisch gegessen und uns gegenseitig die Hände geschüttelt, haben auf einer Tribüne sitzend einem kunstvollen Spektakel des deutschen Regisseurs Volker Hesse beigewohnt, ein Paar nackte Brüste gesehen, ein paar als Federvieh und Gämse verkleidete Akrobaten. Einigen hat es sehr gefallen, anderen weniger.
Unsere Verkehrsministerin Doris Leuthard hatte einen durchlöcherten Umhang von einem Schweizer Designer an, über den sich die Medien das Maul zerreissen, weil die Schweizer es ungeheuerlich finden, für Design so viel Geld auszugeben und sich nicht mal dafür zu schämen. Sie hat fast geweint, vor laufender Kamera, weil ihr das Projekt Gotthard Basistunnel so am Herzen liegt, und viele Schweizer haben leise mit ihr geweint. Einige vor Freude, andere, weil sie die kleine Kirche von Wassen nicht mehr so oft sehen werden.
Die Schweiz hat sich mit der Neat ein neues Loch gebohrt und damit ein neues Herz transplantiert, mitten hinein in eine Zeit der Unsicherheiten und Krisen. Sie hat sich mit der Eröffnung des Gotthard Basistunnels für eine kurze Zeit Kredit verschafft, ein wenig Wohlwollen und Zeit, in Zeiten des starken Frankens, unverschneiter Berge, fehlender Touristen.
Sie hat an ihrer grossen Volksfeier für einen Moment vergessen lassen, welche Probleme die Schweiz als Land des Tourismus und Exportland von Käse und Schokolade gerade stemmen muss – und hat die Schweiz glänzen lassen als Land des Fortschritts, der Innovation. Das Land der guten, alten, soliden Werte, so beständig wie der Fels, aus dem der Tunnel nun geboren wurde. Präzision, Handwerk, Innovation, Pünktlichkeit, Verlässlichkeit.
Es gab keine Skandale, keine Verzögerungen, kein Überschreiten des Budgets, man hat dem Volk und dem Land gegeben, was man ihm versprochen hatte. Man hat 17 Jahre lang jeden Tag fleissig sein Werk vollbracht, Hunderte, Tausende Arbeiter, Planer, Strategen.
Wir haben zugehört, wie Bundespräsident Johann Schneider-Ammann den Weg frei machte, für die erste Durchfahrt, für eine Horde Schülerinnen und Schüler und ein paar glückliche Bürgerinnen und Bürger, die noch vor all den wichtigen Staatsgästen wie François Hollande und Angela Merkel durch den Tunnel durften. Ein Akt der Demut, ein Akt für das Volk, wie es sich für eine direkte Demokratie eben gehört. Ikonen der deutschen Politik wie Joschka Fischer sassen in ihren Sitzen und konnten gar nicht glauben, dass das Fussvolk zuerst fahren darf, das wäre so in keinem anderen Land der Welt möglich, da waren sich alle einig.
Die Neat, sie ist ein Zeichen, ein grosses Symbol. Eines, das 12,2 Milliarden Franken gekostet hat. Sie ist ein Versprechen, die Mauern und Felsen zu sprengen, ausgerechnet in einer Zeit, in der die europäische Politik nichts anderes tut, als Mehrheiten zu sammeln für eine Schliessung von Grenzen und für die Bewahrung von alten, nationalen Werten. Ein Europa, das Angst hat, seine eigene Kultur zu verlieren, wenn andere Kulturen es durchfahren und Halt machen.
Die Neat ist nicht nur ein Versprechen ans Volk, dass die Schweiz zu Grossem fähig ist, sie ist auch ein Versprechen an die EU, dass wir willens sind, uns mit ihr zu verbinden, ihr zu dienen, ihr zu helfen, ohne ihr auf der Tasche zu liegen oder gross Probleme zu machen. Und gleichzeitig lassen wir uns nicht homogenisieren. Wir zeigen mit der Arbeit am Berg, dass nur wir, die Schweizer, wissen, wie man mit Fels umgeht, mit Ewigem, mit Störrischem. Unverrückbare Tatsachen, mit denen kennen wir uns aus.
Wir haben François Hollande den Satz sagen hören, dass die Schweiz heute den Traum Europas realisiert habe. Wir haben Brasato al Manzo gegessen und Risotto mit Lughanige. Wir haben die Nationalhymne gehört und sie, soweit es eben ging, mitgesungen. Die älteren Herren mussten im heissen Festzelt ihre Jacketts ausziehen. Wir haben die Patrouille Suisse durch den Himmel von Pollegio fliegen sehen, in einer Präzision und dabei so befreit von jeder realen Gefahr, wie sie eben nur die Schweiz hinkriegt.
Und so ist aus diesem Projekt Neat Realität geworden, eine Realität, welche die internationalen Staatschefs und die Führungsriege aus Bundesbern als Öffnung sehen, als grossen Meilenstein, in der Verbindung von Nord und Süd, in der Verbindung von Staaten, Menschen, Raststätten und Kulturen.
Und so standen die Staatsmänner und -frauen auf der Inaugurationsbühne vor einer Horde Krawatten tragender Herren über 50 und sprachen von der grossen Zukunft der Einheit, von gemeinsamen Schienen und gemeinsamen Wegen, von gemeinsamen Träumen und dem Ziehen an einem Strang. Und die Herren in ihren Anzügen applaudierten laut, fast tosend. Ihnen gefiel, was sie hörten. Nur der Tisch der SVP, der blieb seltsam ruhig, bei den Worten Öffnung, Zukunft, EU.
Wir haben die Neat gebaut, jetzt ist sie da. Es ist fertig, unser schönstes, dunkelstes Loch inmitten der Schweiz. Wir können zu Recht stolz sein, auf ein Jahrhundertbauwerk, auf Tausende Stunden Schweissarbeit, auf imposante Zahlen, wunderbare Technik. Auf ein Stück Meilenstein in unserem Land. Wir haben uns damit bewiesen, wie stark, wie schnell wir sind. Dass wir den längsten Tunnel der Welt bauen können, dass wir Rekorde ertragen. Die Feier zur Eröffnung war die Krönung für unser Ego, die letzte, so dringend nötige Streicheleinheit, die wir auffangen konnten, bevor uns der raue Wind der Realpolitik wieder einholt.
Ehrlich gesagt, keine Ahnung ober das Sarkasmus sein soll, der einfach nicht zündet oder doch zu ernst gemeint, aber als ganzes ist der Kommentar einfach nicht stimmig.
Neben diversen faktischen Fehlern sind auch viele Darstellungen so einfach nicht korrekt und diese Reduzierung auf "nur die Schweiz hätte es gekonnt" mit gleichzeitiger Gegenüberstellung, dass wir +/- Alle engstirnige Bünzlis sind finde ich wenig gelungen.