«Es gibt Jahrzehnte, in denen nichts passiert, und es gibt Wochen, in denen Jahrzehnte passieren.» So soll das der kommunistische Revolutionär Wladimir Lenin einmal formuliert haben. Und gerade scheint die Welt wieder einmal solche Tage zu erleben, in denen Jahre passieren. Russland dreht Polen und Bulgarien buchstäblich den Gashahn ab. In Deutschland sagt der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, sein Land werde in wenigen Tagen unabhängig sein von russischem Erdöl. Damit werden europäische Wirtschaftsbeziehungen, die über Jahrzehnte aufgebaut wurden, innerhalb weniger Wochen gekappt. Die Folgen werden sich an Schweizer Tankstellen zeigen und Abrechnungen von Heizöl.
Nach seinem Angriff auf die Ukraine lieferte Russland noch zuverlässig Erdöl und Gas nach Europa. Es blieb bei Drohungen, ein russischer Boykott werde Europa in eine Krise stürzen. Doch nun nutzt Russlands Präsident Wladimir Putin auch diese wirtschaftliche Beziehung als Waffe. Russland beliefert Polen und Bulgarien per sofort nicht mehr mit Gas. Putin verlangt, dass die beiden Ländern ihre russischen Importe künftig mit Rubel zahlen. Die Gaspreise gingen gleich darauf um 20 Prozent in die Höhe, doch setzte kurz darauf eine Beruhigung ein, und der Preisanstieg beschränkte sich auf noch 5 Prozent. Die EU hat noch nicht offiziell reagiert, ausser dass sie von «Erpressung» sprach.
Erst vor Kurzem wurden in Deutschland noch «Massenarbeitslosigkeit» und «soziale Unruhen» prophezeit, falls sich das Land einem sofortigen europäischen Embargo von russischem Gas und Erdöl hätte anschliessen sollen. Doch während Bundeskanzler Olaf Scholz vor einer «Rezession» warnte, arbeitete sein Wirtschaftsminister Robert Habeck längst an der Loslösung von der selbst verschuldeten deutschen Abhängigkeit von Russland. So erklärt sich, dass Habeck dieser Tage plötzlich sagt:
Habeck gab bekannt, es sei gelungen, die Abhängigkeit von Russland drastisch zu senken. Möglich war dies anscheinend dank eines Abkommens mit Polen, wie deutsche Medien melden. Vor Beginn des Kriegs in der Ukraine seien noch 35 Prozent des Erdöls aus Russland gekommen, heute seien es noch 12 Prozent, erklärte Habeck. Diese verbliebene 12 Prozent entfallen allein auf eine Raffinerie im ostdeutschen Schwedt, die bislang völlig abhängig von Russland war: Sie wird von einem russischen Staatskonzern gemanagt und ist an eine Pipeline aus Russland angebunden. Diese Raffinerie deckt unter anderem den gesamten Kerosin-Bedarf des Flughafens in Berlin.
Doch auch für diese Raffinerie in Schwedt will Habeck bald eine Alternative haben. Anscheinend wird geschaut, ob sich die Raffinerie per Schiff versorgen lässt, via den polnischen Hafen Danzig. Es handle sich nur um Tage - und Deutschland wäre unabhängig von russischem Erdöl. Zuvor war die Unabhängigkeit erst für Ende des Jahres geplant.
Es kommt zur Entkoppelung: Die EU und vor allem Deutschland lösen sich von Russland; Russland von der EU und vom Westen generell. Der Chefökonom der internationalen Energieagentur, Fatih Birol, sagte, Russlands Blockade zeige, wie das Land bestehende Abkommen politisiere. «Dies beschleunigt nur die europäische Abkehr von russischen Energielieferungen.» Russland wird isoliert.
Eine weitere Folge dürfte nun sein, dass Deutschland seinen Widerstand aufgeben kann gegen ein europäisches Embargo von russischem Erdöl. Ein solches Embargo könnte also bald folgen und Russland empfindlich treffen. In den Jahren vor dem Angriff auf die Ukraine war Rohöl mit Abstand Russlands wichtigstes Exportprodukt: es machte etwas mehr als einen Viertel aller russischer Exporte aus. Zuvor hatte Frankreich ein solches Embargo schon vehement gefordert. Italiens Ministerpräsident Mario Draghi sagte, Europa müsse sich entscheiden, was wichtiger sei, dass die Klimaanlage funktioniere - oder Frieden zu haben.
Wirtschaftsminister Habeck sagt, ein Embargo sei handhabbar geworden - dennoch könnte die Wirtschaft in Deutschland leiden und in Europa allgemein. Robin Brooks, Chefökonom vom globalen Finanzindustrie-Verband IIF, weist darauf hin, dass die Erwartungen der Unternehmen viel düsterer geworden seien, weil sie mittlerweile ein umfassendes Energieembargo für unvermeidlich halten.
Die Dinge bewegen sich schnell, wozu es eben in Deutschland hiess «geht nicht» geht auf einmal. So lässt sich auch mit Fug und Recht fragen, ob frühere Einschätzungen zu möglichen wirtschaftlichen Schäden noch ihre Gültigkeit haben. Dennoch greift man für eine Abschätzung einstweilen auf Berechnungen zurück, welche die KOF Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich vor einigen Tagen veröffentlicht hat. Die KOF ging folgender Frage nach: Was würde passieren, wenn es einen Stopp gibt für alle russischen Exporte von Energieträgern und Rohstoffen in die Europäische Union?
Es wäre ein harter Schlag, aber die Schweizer Wirtschaft würde noch immer wachsen, eine Rezession würde es nicht geben. Laut KOF gäbe es 2022 kein Wachstum von gut 3 Prozent, sondern von 1 Prozent. Es gingen also 2 Prozentpunkte an Wachstum verloren - das wären 15 Milliarden Franken an Wertschöpfung. 2023 käme eine weitere Wachstumseinbusse dazu: 3.5 Prozentpunkte gingen an Wachstum verloren. Total ist ein Wachstumsverlust von 5.5 Prozentpunkten, verteilt über zwei Jahre prognostiziert - oder ungefähr 41 Milliarden Franken.
Die Rohölpreise würden global steigen - damit würden hierzulande etwa Benzin und Heizöl teurer, wie Roland Bilang erklärt, Geschäftsführer des Verbands der Erdölimporteure Avenergy. In welchem Ausmass die Preise steigen würden, lasse sich indessen nicht abschätzen. Laut Avenergy gibt es dafür zu viele Unwägbarkeiten im globalen Erdölmarkt. Zu diesen Unwägbarkeiten dürfte auch zählen, wie genau sich Deutschland nun frei machen kann von russischem Erdöl.
Die schweizerische Versorgung mit Erdöl ist nicht gefährdet. Direkt aus Russland bezieht die Schweiz gar kein Rohöl, auch via andere Länder kommt nur ein kleiner Teil aus Russland. Was die Schweiz aus Deutschland an verarbeitetem Erdöl beziehe, stamme aus Raffinerien im Westen von Deutschland, wie Bilang erklärt. Russisches Erdöl hingegen werde vorwiegend in ostdeutschen Raffinerien verarbeitet. Auch könne die Schweiz vergleichsweise leicht neue Erdöllieferanten erschliessen. Wenn es Deutschland nun gelingt, russisches Erdöl durch andere Quellen zu ersetzen, ist dies auch für die Schweiz eine gute Nachricht.
Eigenes Gas hat die Schweiz keines, weder eigene Lager noch eigene Vorkommen. Fast die Hälfte des Gases kommt via den EU-Markt aus Russland. Sollte die EU also russisches Gas boykottieren oder Russland die EU, dann droht der Schweiz wohl eine Versorgungslücke. Das wäre zunächst noch kein Problem, da der EU-Markt und somit die Schweiz auf andere Gas-Quellen zurückgreifen könnte, etwa Flüssiggas. Auch hat Deutschland seine Gasvorräte auffüllen können, wie der Chefökonom der Versicherung Swisslife schreibt. Marc Brütsch sagt, zu Jahresbeginn seien die Vorräte noch auf dem Tiefstwert seit 2011 gelegen. «Nun nähern sie sich dem langjährigen Durchschnittswert für diesen Zeitpunkt im Jahr.»
Erdgas deckt rund 15 Prozent des Energiebedarfs der Schweiz. Verwendet wird das faktisch zu 100 Prozent importierte Gas vor allem zum Heizen und Kochen - rund 300'000 Privathaushalte heizen mit Gas - sowie in Industrie und Gewerbe. Das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) hat nun die Spielregeln festgelegt, sollte es zu einer sogenannten «Gasmangellage» kommen, also zu einer Situation, in der es noch Gas gibt, aber zu wenig. In einem ersten Schritt würden Konsumentinnen und Konsumenten aufgerufen, den Strom- und Gasverbrauch freiwillig zu drosseln - etwa, indem sie die Heizung etwas runterschrauben oder duschen statt baden. Gleichzeitig könnte der Bund den Firmen mit Zweistoffanlagen die Umstellung von Gas auf Heizöl vorschreiben.
In einem zweiten Schritt würde das Amt in Guy Parmelins Wirtschaftsdepartement das Gas für Grossverbraucher ohne Zweistoffanlagen kontingentieren - oder diese gar stilllegen. Erst in einem dritten Schritt würden würden auch die privaten Haushalte gezwungen, ihren Gasverbrauch zu reduzieren. Konkret würde das heissen, dass nicht mehr rund um die Uhr geheizt werden könnte und auch nicht immer warmes Wasser verfügbar wäre. (saw/aargauerzeitung.ch)
Jetzt hat er auch noch unbedacht seine Haupteinnahmequelle samt Glaubwürdigekeit verpokert.
Selbst wenn er Deutschland den Hahn nicht zudrehen sollte: Das globale Vertrauen in Russlands Zuverlässigkeit ist nun seit gestern definitiv weg - über Jahre.
Putin hatte 20 Jahre Zeit - viel länger als die meisten Staatschefs anderer Länder - aus Russland eine respektierte Wirtschaftsmacht mit Wohlstand für seine Bewohner zu machen.
Er hat‘s vermasselt.
da gehen nicht 41 Milliarden verloren, sie werden einfach nicht erwirtschaftet und können dann, bei der heutigen Geldverteilung, nicht in die Taschen der Reichen fliessen.
ist das wirklich so schlimm?
oder anders gefragt, wieso, ausser für die wachsende Bevölkerung, die ja zu 99% nicht von diesem Wachstum profitiert, braucht es dieses ewige Wachstum?