Er machte Putin zu einem Teil seines Körpers – zwischen einigen Narben ziert ein tätowiertes Porträt des russischen Präsidenten seinen zierlichen Brustkorb. Trotz Putins emotionslosem Gesichtsausdruck stellt das Bildnis das riesige Kolovrat-Symbol auf seinem durchtrainierten Bauch in den Schatten.
Und er ist nicht irgendjemand, sondern der wohl talentierteste Tänzer seiner Generation – und bekannt als «Bad Boy of Ballett».
Ohne Tätowierungen, respektive in Tanzbekleidung, kennt man Sergei Polunin aus diversen Hauptrollen in Ballettaufführungen wie «Schwanensee» oder «Don Quijote» sowie aus internationalen Filmen wie «Red Sparrow» oder «Der Nussknacker».
In Russland ist Polunin so populär wie Pelé seinerzeit. Und Ballett in Russland so populär wie Fussball in Brasilien – eine Sportart, die nationales Ansehen geniesst und einen starken Nationalstolz entwickelt hat. Statt auf den Ball richten sich in Russland die Augen auf den perfekt ausgeübten Spagatsprung.
Und das schon lange. Das Ballett kam Ende des 18. Jahrhunderts nach Russland und wurde danach zum wichtigsten Tanz im Riesenreich, dem auch die bolschewistische Revolution nichts anhaben konnte.
Für viele in Russland bedeutet der Kulturschatz aber vor allem eins – ein Tanz aus der Armut. Wer es bis nach oben schaffen will, nimmt das harte Training sowie die Schmerzen in Kauf. Es ist der Traum von der grossen Bühne, der sie antreibt – und nicht selten vom grossen Geld.
Auch bei den Polunins.
Sergei Polunin wurde 1989 in der Hafenstadt Cherson geboren, der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik. Er wuchs in armen Verhältnissen auf. Sein Vater verliess die Familie früh, um in Russland zu arbeiten.
Und Sergei Polunins Mutter versprach sich durch das Talent ihres Sohnes eine goldene Zukunft. Galina Polunina trieb ihr Kind dazu, das zu werden, was Polunin heute ist – der berühmteste Balletttänzer der Welt.
Im Alter von vier Jahren schickte sie ihn auf eine Sportschule. Sechs Stunden Training täglich. Ziel: Eine Karriere als Kunstturner. Seine Begeisterung aber galt schon immer dem Tanzen. Aber eigentlich – so wird er es später erzählen – wollte er nur spielen, Kind sein.
Doch seine Mutter hatte andere Pläne.
Mit neun Jahren zogen sie nach Kiew in eine Einzimmerwohnung – und von dort in die grosse Welt.
Mit 12 verliess er allein und ohne Sprachkenntnisse die Ukraine und zog nach London. Der filigrane Junge aus der einstigen Sowjetunion landete erstmals im Westen. Dort heuerte er an der Royal Ballet School an. Aufgrund seiner fehlenden Englisch-Kenntnisse musste er die Allgemeinschule nicht besuchen und es blieb ihm mehr Zeit zum trainieren. Es wurden 12 Stunden. Täglich. Sein Tanz aus der Armut sollte kein gescheiterter Versuch bleiben. Er wollte es allen beweisen, besonders seiner Familie, die für ihn schon so viel geopfert hatte.
Mit 17 gewann er beim berühmten Ballettwettbewerb Prix de Lausanne. Drei Jahre später wurde er zum jüngsten Solo-Tänzer der Geschichte des Royal Ballet. Mit seiner unglaublichen Geschwindigkeit, Biegsamkeit und seiner furchtlosen Performance schaffte er es bis an die Spitze.
Die Welt stand ihm offen.
Doch das Einkommen war mies, trotz seines Erfolges konnte er sich nichts leisten. Das Geld reichte nicht einmal für Flugtickets für seine Eltern. «Tänzer foltern ihren Körper, ruinieren ihre Gesundheit – aber selbst die besten werden nicht annähernd so reich und berühmt wie Opernsänger oder Fussballer», wird Polunin später sagen. Ein Ticket für eine Vorführung am Bolschoi-Theater, dem bekanntesten Theater der Welt, koste oft mehr, als ein Tänzer in einem Monat verdiene.
Doch nicht nur der finanzielle Aspekt frustrierte ihn, sondern auch die Erkenntnis, dass er nie eine Kindheit hatte. «Tänzer sind wie Kinder. Sie kennen nur das Atelier, die Barre, die Arbeit – sie haben nichts erlebt. Sie sind wie ein 11-Jähriger im Körper eines 23-Jährigen», sagte Polunin einst.
Das harte Training und das isolierte Leben zermürbten ihn immer mehr. Mit Alkohol und Drogen versuchte er seine depressive Stimmung zu kompensieren. Er habe damals alles genommen, ausser Heroin, sagte er später. Im Rausch glaubte er, besser tanzen zu können.
Es war auch der Beginn seiner «Sucht» zu Tätowierungen. Er liess sich Batman auf den Oberarm stechen und Narben in Form von Katzenspuren auf den Oberkörper ritzen. Auf der Bühne musste er die «Unreinheiten» aber immer mit Schminke verborgen halten. «Wenn du niedergeschlagen bist, machst du Tattoos und es gibt dir ein paar Tage lang Adrenalin und du bist glücklich», so Polunin.
Mit der Tinte auf seinem Körper drückte er wohl auch einen anderen Wunsch aus: «Ich wollte immer ein Krimineller werden», sagte Sergei Polunin. «Oder Akrobat in einem Zirkus». Er erinnerte sich daran, wie die Jungs seiner Heimat rauchten und Waffen trugen. Er wollte damals auch so werden. In seinem Rausch aus Drogen und Tätowierungen sehnte sich Polunin aber vor allem nach einem normalen Leben. Er fühlte sich einsam. Als Tänzer hatte er keine Zeit, um Kontakte zu knüpfen.
Mit 22 zog er die Notbremse. Er hängte seine Ballettschuhe an den Nagel, gab seinen Rücktritt bekannt und verschwand von der Bildfläche. «Meine Mutter hat Ballett für mich gewählt, nicht ich», sagte er 2012. Und: «Warum soll ich etwas weiterhin tun, nur weil ich talentiert bin?».
Es ging jedoch nicht lange, ehe er nach Russland reiste und seine Karriere wieder aufbaute. Innert kürzester Zeit wurde er in Russland zum Star. 2015 erlangte er schliesslich den internationalen Durchbruch als Tänzer im Musikvideo «Take me to church».
Ein paar Jahre blieb er dem Westen fern, bis ihn die Pariser Oper für die Rolle des Prinzen im weltberühmten Ballett «Schwanensee» engagieren wollte.
Er hätte seine Karriere neu lancieren können – aber er stolperte über seine eigenen Füsse.
Homophobe und sexistische Äusserungen kosteten ihn die Rolle. Der «Bad Boy des Ballets» stolperte über seine eigenen Social-Media-Posts. Dort schrieb er:
Dies war längst nicht der letzte Akt der Selbstsabotage. Auch auf Übergewichtige haute er mit der verbalen Keule ein: «Lasst uns fette Leute schlagen, wenn ihr sie sieht, das wird sie ermutigen, etwas Fett zu verlieren».
Die Beiträge hat der Tänzer mittlerweile gelöscht. Wie er heute selbst sagt, hätten ihn die negativen Schlagzeilen damals auf seltsame Weise angespornt. «Die Energie greift dein Herz an, deinen Magen, sie bringt dich fast aus dem Gleichgewicht», zitierte ihn «The Guardian» 2019. Er habe sich dadurch mit der Welt verbunden gefühlt. Und das sei bitternötig gewesen, da er jahrelang nichts gespürt habe.
Zur streitbaren Figur machte er sich auch mit Aussagen über den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Aus seiner Putin-Verehrung machte er keinen Hehl. Auf den sozialen Medien schrieb er 2018, dass er sich Putin als «Führer der Welt» wünsche, der den «ultimativen Sieg über das Böse» feiern würde. Der Künstler sagte, Russland kämpfe gegen «skrupellose Menschen», die für «Revolutionen und Kriege in der Ukraine, Georgien und anderen Ländern» verantwortlich seien.
Die Putin-Propaganda hatte sich da längst im Kopf des «Bad Boy of Ballet» verfestigt.
Polunin sagt, er habe sich schon seit klein auf als Russe gesehen. Er verehrte den in seinen Augen «heldenhaften und starken» Mann im Kreml.
Nach seinem Umzug nach Russland beantragte er die russische Staatsbürgerschaft und liess sich Putins Gesicht auf die Brust tätowieren. «Es erschien mir nicht richtig, dass es so viel Hass gegen eine Person gab. Ich wollte deshalb den Menschen sagen, dass sie, wenn sie mich lieben, auch ihn lieben sollten», offenbarte Polunin kürzlich der spanischen Zeitung «La Vavanguardia». Mit der Tätowierung habe er viele vor den Kopf gestossen. Er wollte sich erklären, «aber natürlich hat mich niemand verstanden. Das war eine Katastrophe. Indem ich mich verteidigt habe, habe ich mir noch mehr Ärger eingehandelt».
Viele Jahre lang habe er die Welt in zwei Seiten geteilt: Ost und West. Er habe versucht zu verstehen, was schwarz und weiss ist – und hat sich offenbar im Dunkeln verirrt. «In Russland hörte ich immer, wie schlecht Grossbritannien und die USA seien und umgekehrt», so Polunin.
In seinem Heimatland Ukraine wurde er für seine Propaganda sowie wegen des Putin-Tattoos geächtet. Nach der Annexion der Krim 2014 setzte ihn die Ukraine laut eigenen Angaben auf die Liste von Terroristen und Kriegsverbrechern. Ihm sei verwehrt worden, in die Ukraine zu reisen. Auch von Russland erhielt er keine Liebesbotschaften. Die Regierung habe ihm gesagt, er solle die Medien in Russland nicht beschmutzen.
Und auch der Westen reagierte – und liess ihn zunehmend vor verschlossenen Türen stehen: keine Ballettaufführungen, keine Schauspieljobs, keine Sponsoren.
Sergei Polunin fällte einen Entscheid.
2019 fing er an, all seine Tätowierungen zu entfernen – auch jenes von Putin. Nach nur einem Jahr war er vom Porträt des russischen Präsidenten nicht mehr überzeugt. «Die Tattoos widerspiegeln nicht mehr die Persönlichkeit, die ich der Welt zu präsentieren versuche», sagte der inzwischen 32-Jährige im vergangenen Jahr.
Ein weiteres Mal drückt er auf den Reset-Button. Vier Tage vor der russischen Invasion in der Ukraine sagte der Tänzer, dass er sein Image wiederherstellen müsse. Doch dieses Mal kann er sich nicht so leicht ein neues Leben in einem neuen Land aufbauen. In einigen Ländern, darunter Lettland, befindet sich der Tänzer auf einer Liste von «unerwünschten Personen», die den Krieg rechtfertigen oder propagieren.
Derzeit befindet er sich mit seiner Frau, der russischen Eiskunstläuferin Jelena Ruslanowna Iljinych und dem gemeinsamen Sohn in Dubai. Auf Instagram kündigte er an, dass er im Dezember wieder in Russland auftreten werde.
Kurz vor dem Angriffskrieg gesteht er, dass er mit seinen Aussagen zu Putin die Menschen nur noch mehr gespalten habe. Um die Welt sicherer zu machen, müsse man aus Liebe und nicht mit Protestaktionen kommunizieren.
Mittlerweile ist Polunins politische Stimme verstummt. Er kommentiert weder den Krieg in der Ukraine, noch die Geschehnisse in einer Geburtsstadt Cherson, die Russland aktuell eingenommen hat. Auf Fragen wie «Was ist mit deiner Familie in der Ukraine?» reagiert er auf Instagram nicht – zumindest nicht öffentlich.
Noch ist das Gesicht Putins auf seiner Brust noch nicht verblasst. Die vollständige Entfernung seiner Tätowierungen wird ihn noch etwas länger beschäftigen. Bis er sein Image wieder hergestellt hat, dürfte es noch viel länger dauern.
Ist eben nur das, ein Image. Aber wie und wer ist er echt? Wohl ein sehr problematischer mensch...