Es bleibt unausgesprochen, weil es allen klar ist, als Kateryna Badiak im Velodrom in Grenchen an diesem Nachmittag von ihren Familie in der Ukraine erzählt. Ihre Eltern, darunter ihr Vater und ihr älterer Bruder sind geblieben, um das Land gegen die russischen Invasoren zu verteidigen. Männer im Alter zwischen 18 und 60 dürfen das Land nicht verlassen.
Die 17-jährige Kateryna muss aus der Schweiz mitverfolgen, wie russische Truppen in ihrer Heimat mit Panzern auf Wohnhäuser schiessen. Wie sie die Hauptstadt Kiew, in der sie zuletzt lebte, umkreisen. Und wie sie immer weiter vordringen. Thomas Peter, der Geschäftsführer von Swiss Cycling sagt: «Ihr täglicher Begleiter ist die Frage: Wer lebt noch – und wer nicht?» Kateryna verdrängt diese Ohnmacht und Verzweiflung. Sie sagt: «Wir müssen an unsere Zukunft denken.» Ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie diese aussehen wird. Ohne zu wissen, wann sie ihre Familie wieder sehen wird. Ohne zu wissen, wann sie zurückkehren kann.
Ihre Gegenwart spielt sich in der Schweiz ab. Untergebracht ist Kateryna in Magglingen. Als vor zwei Wochen der Krieg ausbrach, weilte sie noch in Lwiw im Westen der Ukraine in einem Trainingslager. Ihr Trainer suchte sofort nach Möglichkeiten, die Talente ausser Landes zu bringen und trat an Thomas Peter heran. Nur wenige Stunden machte sich Peter mit drei Mitarbeiterinnen auf den Weg an die polnisch-ukrainische Grenze, um 13 Bahnradtalente zu evakuieren, unter ihnen Kateryna Badiak. Sie harrten in der Wohnung eines Trainers in der polnischen Grenzstadt Lublin aus.
Inzwischen weilen 27 Bahnradfahrer und Mountainbikerinnen aus dem ukrainischen Nachwuchskader sowie eine Trainerin und deren zwei Töchter in Magglingen. Ihre Flucht verlief zum Teil dramatisch: mit Autos, Bussen, Zügen und zum Teil auf dem Fussweg und nur mit dem Nötigsten ausgerüstet, schlugen sich vier 14-Jährige in einer fünftägigen Odyssee aus der heftig umkämpften Stadt Donezk im Osten der Ukraine an die Grenze durch, von wo sie in die Schweiz weiterreisten. «Einige von uns erreichen seit Tagen ihre Familien nicht mehr», sagt der 17-jährige Leonid Formenko. Seine Mutter ist mit den beiden Brüdern nach Deutschland geflüchtet.
Immerhin: In der Schweiz profitieren die Nachwuchssportler von einer guten Infrastruktur, um ihre sportlichen Ambitionen weiterzuverfolgen. Im nationalen Leistungszentrum in Magglingen haben sie ein kleines Zimmer, einen Fitnessraum und ein Schwimmbecken. Die Älteren erreichen die Rennbahn in Grenchen mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, die sie gratis nutzen können. «Das ist besser als das, was wir aus der Ukraine kennen», sagt Kateryna, die in Kiew Wirtschaft studierte. «Wir sind extrem dankbar, dass wir hier sein können.» Am Vormittag besuchen sie eine Sprachschule in Biel, verbessern dort ihr Englisch, einige lernen sogar Deutsch.
Verzweiflung lässt sie sich nicht anmerken. Die beste Therapie gegen die Bilder aus der Heimat und die Angst um die Freunde und Familie ist das Velofahren. Bereits am Donnerstag nehmen sie an einem Rennen auf der Bahn teil, am Samstag auf der Strasse. Ablenkung bot auch ein Ausflug nach Bern mit dem Besuch des Rosengartens und des Bärengrabens. Als Kateryna davon erzählt, huscht ein kurzes Lächeln über ihr Gesicht. Die Nachrichten, so bedrückend und beängstigend sie sind, blendet sie nicht aus. «Die Ukraine ist unser Land. Wir müssen wissen, wie es weitergeht.»
Thomas Peter bewundert zwar die Tapferkeit der jungen Sportlerinnen und Sportler, die er in die Schweiz geholt hat. Doch er spricht auch aus, was passieren wird, wenn der Krieg weitergehen sollte, oder es nicht bald zu einem Waffenstillstand kommt: Familienmitglieder und Freunde von Kateryna, Leonid oder weiteren Geflüchteten werden sterben. Peter und seine Mitstreiter sind darauf vorbereitet, falls psychologische Hilfeleistung notwendig werden sollte. Kateryna hofft auf ein anderes, ein glücklicheres Ende in der ganzen Tragik: «Dass wir unsere Familien bald wiedersehen.» (aargauerzeitung.ch)