Die Familien und ihre Unterstützer fordern zum ersten Jahrestag der Tragödie mit 159 Toten am Sonntag zudem eine intensivere Ursachenforschung. Die Wahrheit sei bisher nicht aufgedeckt worden, sagte der Mitvorsitzende einer Gruppe von Opfer-Familien, Yu Hyoung Woo, am Donnerstag vor Journalisten in Seoul. «Niemand hat die Verantwortung übernommen und gesagt: Das ist mein oder das sind unsere Fehler.» Yus 22-jährige Tochter war damals ums Leben gekommen.
Bei unorganisierten Feiern hatten sich in der Nacht des 29. Oktober 2022 in einem Vergnügungsviertel der Zehn-Millionen-Metropole grosse Menschmassen gebildet. Im dichten Gedränge in einer schmalen, abschüssigen Seitenstrasse stürzten plötzlich zahlreiche Menschen zu Boden – viele von ihnen erstickten, wurden zerquetscht oder totgetreten.
Es gab zahlreiche Verletzte unter den meist jungen Menschen aus Südkorea und mehr als einem Dutzend anderer Länder. Ein Sonderteam der Polizei hatte später erklärt, eine Vielzahl von Versäumnissen einschliesslich fehlender Sicherheitsvorkehrungen und verzögerter Rettungsmassnahmen habe zur hohen Opferzahl beigetragen.
Die Gruppe der betroffenen Familien wirft der Regierung vor, sie niemals formell über die Hintergründe unterrichtet zu haben. «Die Regierung ist bisher eine Erklärung schuldig geblieben», sagte Yu. Die bisherigen Entschuldigungen der Behörden reichten nicht aus.
Ungeklärt sei unter anderem auch, wie viele Beamte zum Zeitpunkt der Tragödie vor Ort gewesen seien oder wie die Erste-Hilfe-Versorgung genau abgelaufen sei, sagte am Donnerstag der Anwalt Yun Bok Na von der Organisation Anwälte für eine Demokratische Gesellschaft. «Nationale Ermittlungen wurden aufgrund politischer Streitereien, fehlender Kooperation von Beamen, aus Zeitgründen et cetera mit sehr beschränkten Ergebnissen abgeschlossen.»
Zwar hatte die Regierung schon wenige Tage nach dem Unglück ein Hilfsprogramm für traumatisierte Überlebende sowie Angehörige aus dem In- und Ausland angeschoben. Dennoch fühlen sich die Familien noch immer in vielerlei Hinsicht im Stich gelassen. So vermissen sie nach eigenen Angaben die Bereitschaft, gegen Versuche aus Teilen der Gesellschaft vorzugehen, die Opfer zu beschuldigen.
Die Gesellschaft gebe den Opfern die Schuld dafür, in das betroffene Ausgehviertel Itaewon gegangen zu sein, sagte sichtlich erregt in Seoul die in Österreich lebende Nari Kim, die damals ihren jüngeren Bruder verlor. «Wie kann die Regierung behaupten, dass sie vielen Opfer-Familien und Überlebenden geholfen hat, wenn sich die Überlebenden davor fürchten, über den Vorfall zu reden?» Die Familien von ausländischen Opfern fühlten sich zudem isoliert.
Für Angehörige ist der Protest ein Weg, mit den Folgen des Unglücks umzugehen. «Wir können es bis heute nicht akzeptieren, was passiert ist», sagte Lee Jung Min, der seine Tochter bei der Massenpanik verlor, bei einer Kundgebung vor dem Rathaus in Seoul. Dort hatten die Familien schon im Februar einen Gedenkaltar mit Fotos der Opfer aufgestellt.
Am Unglücksort selbst steht entlang einer Seite der kleinen Gasse eine Wand aus Stahlplatten, auf denen unter anderem Botschaften der Trauer und des Zuspruchs angebracht sind. Das Nachtleben an Wochenenden in Itaewon hat sich seit dem Unglück wieder weitgehend normalisiert. Vor den Clubs bilden sich wie üblich Menschenschlangen, auch wenn die Unglücksgasse selbst von vielen bewusst gemieden wird.
Die Behörden wollen in diesem Jahr auf mögliche Menschenmassen zu den Halloween-Feiern in Itaewon und anderen bekannten Ausgehvierteln besser vorbereitet sein. Nach Angaben der Stadtverwaltung wird unter anderem ein «intelligentes» Netz von Überwachungskameras zur Personenzählung während der Halloween-Saison eingesetzt. Halloween ist immer am 31. Oktober.
Wie gross diesmal die Strassenpartys ausfallen werden, ist unklar. In Internetforen wird darüber diskutiert, ob es angemessen sei, sich an Feiern – verkleidet oder unverkleidet – zu beteiligen. Die 28-jährige Lee Ju Hyun, die das Unglück von damals überlebte, will auch diesmal wieder in Itaewon dabei sein. Sie wolle damit demonstrieren, dass man nicht den Feiern selbst die Schuld für die damalige Tragödie geben könne. Auch wolle sie zeigen, «dass nicht die Opfer für die letztjährige Tragödie verantwortlich sind», sagt sie. (saw/sda/dpa)