Mehr als 20 Zeugen zeichneten in den 108 Verhandlungstagen vor dem Oberlandesgericht Koblenz ein dramatisches Bild der systematischen Folter des Assad-Regimes im syrischen Bürgerkrieg. Überlebende der Torturen berichteten, wie Gefangene an den Handgelenken aufgehängt, geschlagen und mit Elektroschocks traktiert wurden. Es wurde berichtet von Toten mit herausgerissenen Zehennägeln und abgetrennten Geschlechtsorganen. Von Vergewaltigungen und sexueller Gewalt.
Die Erzählungen belasteten den Hauptangeklagten schwer. Vor dem Oberlandesgericht Koblenz sass seit April 2020 der heute 58-jährige Anwar R, ein ehemaliger Offizier des syrischen Geheimdienstes, der in einem berüchtigten Foltergefängnis in Damaskus 2011 und 2012 Chef einer Vernehmungseinheit war.
Im Zuge der Flüchtlingskrise flüchtete er später nach Deutschland, wo er von Landsleuten erkannt wurde. 2019 verhafteten ihn die deutschen Behörden. Die Bundesanwaltschaft warf dem Angeklagten Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter in mindestens 4000 Fällen und den Tod von mindestens 30 Gefangenen vor. Die Richter in Koblenz folgten den Anklägern in den meisten Punkten. Anwar R, der seine Unschuld beteuert hatte, muss lebenslänglich ins Gefängnis.
Die Prozesse gegen Anwar R. und einen ebenfalls aus Syrien eingewanderten Unterstützer, der bereits im Februar wegen Beihilfe zu Folter zu einer Strafe von viereinhalb Jahren verurteilt worden ist, sind die weltweit ersten dieser Art, die die Gräueltaten des Assad-Regimes juristisch aufarbeiten und in ihren Urteilen feststellen, dass es im syrischen Bürgerkrieg zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gekommen ist und mutmasslich immer noch kommt.
Möglich wurde der Prozess in Deutschland dank des Weltgerichtsprinzips im Völkerrecht, das auch die Schweiz kennt. Demnach können Kriegsverbrechen von Ausländern auch in anderen Staaten wie Deutschland und der Schweiz verfolgt werden. Denn solange Baschar al-Assad in Damaskus an der Macht bleibt, ist es ausgeschlossen, dass Kriegsverbrechen des Regimes in Syrien juristisch aufgearbeitet werden.
Ein Prozess gegen ehemalige Schergen des syrischen Machthabers vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag scheitert daran, dass Syrien den Gerichtshof nicht anerkennt und zudem China und Russland einen solchen Prozess blockieren.
Das Urteil wurde von den Opfern des Assad-Regimes in Deutschland mit Genugtuung aufgenommen. Der Überlebende des Foltergefängnisses, Wassim Mukdad, sagte dem «Tagesspiegel»:
Er wünscht sich Rechtsstaatlichkeit auch für Syrien. Sein Heimatland sei weit von rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien entfernt. Doch jeder lange Weg beginne mit einem ersten Schritt. «Dieser Prozess ist der erste Schritt.»
Der Nürnberger Völkerrechtler Christoph Safferling betonte schon zuvor im Gespräch mit dieser Zeitung die Bedeutung des Verfahrens in Koblenz für künftige Prozesse in Deutschland und anderen Staaten, allenfalls sogar gegen Assad selbst. Mit dem Urteil sei zum ersten Mal festgestellt worden, «dass das Assad-Regime den Arabischen Frühling mit brutalsten Mitteln niedergeschlagen hat.»
Tatsächlich stehen nächste Prozesse im Zusammenhang mit Verbrechen im syrischen Bürgerkrieg an. Ab nächster Woche muss sich in Frankfurt ein syrischer Arzt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten.
Tokyo