Am 28. Mai 2023 tritt Erdogan zur Stichwahl gegen Kemal Kilicdaroglu an. Falls er verlieren sollte, wäre das die erste Niederlage in Erdogans Karriere. Was bei einem Misserfolg Erdogans geschehen würde, ist unklar. Vielleicht wäre es sein Ende, vielleicht aber auch nur eine Pause.
Recep Tayyip Erdogan erblickte am 26. Februar 1954 in Istanbul das Licht der Welt. Sein Vater war Seemann, gläubiger Muslim und arbeitete im Istanbuler Hafenquartier Kasimpasa. Dort lebte Erdogan auch für die längste Zeit seiner Kindheit und wuchs, wie der Grossteil des Arbeiterviertels, in eher ärmlichen Verhältnissen auf.
Nach der Grundschule besuchte der junge Recep ein religiöses Fachgymnasium. In diesem fiel er durch seine Frommheit auf, sodass er den Spitznamen «Koran-Nachtigall» erhielt. Seine politische Karriere nahm ihren Anfang, als Erdogan in den 70er-Jahren der «Nationalen Ordnungspartei» beitrat. Diese war islamistisch geprägt und die Heimat von intellektuellen Muslimen, die die laizistische Ausrichtung der Türkei ablehnten. Die Partei wurde im Zuge des Militärputsches 1980 wie alle Parteien aufgelöst. Drei Jahre später wurde ihre Nachfolgerin, die Wohlfahrtspartei, gegründet. Dort war Erdogan von Beginn an Mitglied und wurde später auch in den Vorstand gewählt.
In den 90er-Jahren stürzte in Istanbul die damals regierende sozialdemokratische Partei ab – als Folge eines Skandals um die Istanbuler Wasserwerke. Es war die Chance für den 40-jährigen Erdogan, dem 1994 die Überraschungswahl zum Oberbürgermeister der Stadt gelang.
Seine Amtszeit wurde von Zeitzeugen grösstenteils positiv bewertet. So wurde unter Erdogan die städtische Wasserversorgung deutlich verbessert, er etablierte ein neues Müllabfuhrsystem, liess neue Strassen und Viadukte bauen und öffnete das Ratshaus der Öffentlichkeit. Er lancierte ebenfalls eine Meldestelle, auf welcher man Korruptionsverdachte melden konnte. Um den Kontakt zur Bevölkerung zu pflegen, gab er sogar seine E-Mail-Adresse heraus.
Durch all diese Dinge erfreute sich Erdogan im als progressiv geltenden Istanbul grosser Beliebtheit. Trotzdem: Seine islamistische Überzeugung hielt nach wie vor Bestand. Der Oberbürgermeister fiel nämlich immer wieder durch islamistische Aussagen auf. So betonte er während einer Pressekonferenz, dass es nicht möglich sei, laizistisch und zugleich Moslem zu sein. In einem Interview mit der Zeitung «Milliyet», gab er zudem an, dass er Anhänger der Scharia sei. 1998 führte die wohl eine Aussage zu viel schliesslich zu seiner Verhaftung und Entlassung als Oberbürgermeister von Istanbul.
Während einer Rede in Siirt im Osten der Türkei trug er ein Gedicht vor. Wegen «Aufwiegelung der Bevölkerung zu Hass und Diskriminierung» wurde er anschliessend zu zehn Monaten Haft verurteilt.
Das Gedicht wird heute, als die zunehmend anti-demokratische Haltung Erdogans längst offen liegt, immer wieder zitiert. Es lautete wörtlich: «Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.» Als weitere Folge der Verurteilung wurde ihm ein Politikverbot ausgesprochen, welches ihn von Parlamentswahlen ausschloss.
Aus mehreren verbotenen islamistischen Parteien ging 2001 die «Adalet ve Kalkınma Partisi» (AKP) – auf Deutsch die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung – hervor. Bei der Gründung entscheidend beteiligt war Erdogan, der sich nach seinem Gefängnisaufenthalt als geläuterter Mann präsentierte und sich von seinem früheren Islamismus distanzierte. Er lehnte auch die Bezeichnung der Partei als muslimisch-demokratisch ab und postulierte, dass die Partei konservativ-demokratisch sei.
2002 konnte die AKP dann überraschend die absolute Mehrheit im Parlament gewinnen. Durch sein Politikverbot konnte sich Erdogan aber nicht zur Wahl stellen und war somit nicht im Parlament vertreten. Die Rolle des Ministerpräsidenten übernahm der spätere 11. Staatspräsident der Türkei, Abdullah Gül, ebenfalls aus der AKP. Nach einer Verfassungsänderung, die das Politikverbot Erdogans aufhob, wurde Erdogan im Frühjahr 2003 in einer kontroversen Nachwahl in der Provinz Siirt ins Parlament und anschliessend zum Ministerpräsidenten gewählt.
Die AKP hat ihre Ursprünge in islamistischen und anti-säkularen Parteien, wie Erdogans früherer Partei, der Wohlfahrtspartei. Dieser Tatsache geschuldet regte sich im säkularen Establishment und dem Militär, welches sich als Hüter Atatürks Ideologie sieht, Widerstand. In der Geschichte der Türkischen Republik putschte das Militär insgesamt viermal, das letzte Mal 1997.
Der Putsch 1997 fand vor allem statt, um die säkulare Ordnung in der Türkei aufrechtzuerhalten, welche das Militär durch Erdogans politischen Ziehvater Necmettin Erbakan und die Wohlfahrtspartei bedroht sah. Die Partei wurde nach dem Putsch verboten, weil sie gegen die Trennung von Staat und Religion verstossen hatte.
Von der Europäischen Union her wurde die Türkei immer wieder für ihre politischen Verbote von Politikern und Parteien kritisiert. Die Wohlfahrtspartei klagte anschliessend am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Schliessung. Die Klage wurde aber abgelehnt, da der Gerichtshof im Partei-Verbot keine Menschenrechtsverletzung sah.
Aufgrund ihrer Vergangenheit bestand 2002 ebenfalls die Möglichkeit, dass die AKP verboten werden würde. Das Verfassungsgericht entschied sich schlussendlich aber gegen ein Verbot. Eine Militärintervention wurde ebenfalls befürchtet.
2008 hob die AKP das Kopftuchverbot an Universitäten auf. Dies wurde von Oppositionellen in der ganzen Türkei als Angriff auf die säkulare Ordnung der Türkei wahrgenommen. Der Generalstaatsanwalt erhob anschliessend Anklage beim Verfassungsgericht. Die AKP und ihre führenden Mitglieder entgingen dabei nur knapp einer Sperre.
In den ersten Jahren seiner Amtszeit war die Politik Erdogans grösstenteils progressiv und führte zu Wirtschaftswachstum sowie zu besseren internationalen Beziehungen mit wichtigen internationalen Playern, wie den USA, der EU und Russland. Der Beitritt in die Europäische Union war für Erdogan ebenfalls ein zentraler Punkt seiner ersten Amtszeit. Insbesondere der Westen hegte zu Beginn seiner Amtszeit grosse Hoffnungen in Erdogan. Dies zeigte sich auch in seinen unzähligen Auszeichnungen, die ihm von westlichen Institutionen verliehen wurden.
In der Türkei hingegen stand Erdogan während seiner gesamten Amtszeit im Konflikt mit dem Militär sowie den säkularen Kräften des Landes.
Und: Bereits 2010 begannen sich Erdogans autoritäre Tendenzen in seiner Politik zu zeigen: So liess er das Volk 2010 über eine Verfassungsänderung abstimmen und hatte Erfolg. Durch diese erlangte die Exekutive, beziehungsweise der Premierminister, zusätzliche Macht, gleichzeitig beschränkte sie die Entscheidungsgewalt des Parlaments und insbesondere die des Militärs. So durften Zivilpersonen, anders als vorher, nur noch in Kriegszeiten vom Militärgericht verurteilt werden. Umgekehrt durften mit den neuen Verfassungszusätzen Angehörige des Militärs neu auch von zivilen Gerichten verurteilt werden.
Die Pressefreiheit in der Türkei ist laut «Reporter ohne Grenzen» bereits seit 2012 auf einem sehr tiefen Niveau. 2023 befindet sich die Türkei auf Rang 165 von 180 Ländern und landet somit einen Rang unter Russland.
2013 wurde aus einem relativ überschaubaren Protest gegen den teilweisen Abriss des im Herzen Istanbuls gelegenen Gezi-Parks eine nationale Protestbewegung gegen Erdogan und die AKP. Die Proteste waren nicht zentral organisiert, sondern entstanden spontan und verbreiteten sich über die sozialen Medien. Die zentralen Kritikpunkte: die Zensur der Medien, Erdogans autoritäres Auftreten, exzessive Polizeigewalt und die Einschränkung der persönlichen Freiheit.
Insgesamt beteiligten sich 3,5 Millionen Türkinnen und Türken an nationalen Protestaktionen im Frühjahr 2013. Im Rahmen der Proteste wurden 22 Menschen getötet, ungefähr 8000 verletzt und circa 3000 verhaftet.
2014 wechselte Erdogan seinen Posten: vom Premierminister zum Präsidenten. Er wurde dabei knapp mit 52 Prozent der Stimmen gewählt. Bereits einen Tag später schwor er den neuen Premierminister Davutoglu ein. Anders als üblich trat Erdogan nicht aus seiner Partei aus und kündigte an, die grösstenteils zeremonielle Rolle des Präsidenten aktiver als seine Vorgänger auszuüben.
Am 15. Juli 2016 versuchten Teile des türkischen Militärs, die AKP-Regierung zu stürzen. Dabei gelang es den Putschisten zwar, den staatlichen TV-Sender «TRT» zu besetzen, ansonsten wurden sie aber grösstenteils von zivilen Protesten und der Polizei zurückgeschlagen. Während der Besetzung des staatlichen TV-Senders verkündete der sogenannte «Frieden-zu-Hause-Rat», die neue Regierung der Türkei zu sein. Der Rat erklärte in seiner Ansage, man wolle die verfassungsmässige Ordnung, die Menschenrechte und persönliche Freiheit sowie die Rechtsstaatlichkeit und allgemeine Sicherheit wiederherstellen.
Als Anführer des Coups sah Erdogan den im Exil lebenden Imam Fetullah Gülen. Erdogan forderte von den USA, dass Gülen in die Türkei ausgeliefert wird. Die Obama-Regierung lehnte dies jedoch ab und verwies darauf, dass zuerst Beweise für Gülens Mitschuld vorgelegt werden müssen.
Der Coup war überaus blutig: Es wurden über 300 Menschen getötet, darunter 161 Polizisten und zivile Protestierende, die Erdogan als Märtyrer bezeichneten. Im Nachgang nutze Erdogan den Putsch, um noch härter gegen Kritiker und Gegner vorzugehen. Er liess über 160'000 Personen verhaften, weil ihnen eine Verbindung zum Putschversuch nachgesagt wurde. Unter den Verhafteten befanden sich auch dutzende Journalisten. Mehr als 120 Nachrichtenagenturen im ganzen Land wurden zur Schliessung gezwungen. Auch in der Verwaltung kam es zu einer riesigen Entlassungswelle: Mindestens 160'000 Staatsangestellte verloren nach dem Putschversuch ihre Stelle.
Die autoritären Entwicklungen Erdogans sind nach dem Putsch nicht weniger geworden. 2017 nahm die türkische Bevölkerung eine Verfassungsänderung knapp an. Durch diese wandelte sich die Türkei von einer parlamentarischen Republik im Stile Deutschlands oder Italiens zu einer präsidialen Republik, wie sie in den USA und Brasilien gilt. Die Rolle des Premierministers – Erdogans früherem Posten – wurde 2018 bei den ersten parlamentarischen Wahlen nach der Verfassungsänderung aufgelöst. Seit 2018 finden die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen zudem zeitgleich alle fünf Jahre statt. Die Türkei-Wahl 2023 ist also erst die zweite Wahl nach der Transition zu einer präsidialen Republik.
Die Verfassungsänderung übertrug Erdogan massiv mehr Macht: In seiner neuen Rolle als Präsident der Türkei vereinigt er die Rolle als Staatsoberhaupt mit der des Regierungschefs. Erdogans Machtfülle wurde von kontemporären Kommentatoren mit der Machtfülle der Sultane des osmanischen Reichs verglichen. In seiner Funktion als Präsident ernennt er die grosse Mehrheit der Richter des Verfassungsgerichts, seine Stellvertreter, das Kabinett sowie sämtliche hohe Posten aller öffentlichen Einrichtungen und Universitäten.
Wie die früheren Sultane regiert Erdogan aus einem Palast in der Hauptstadt Ankara. Ursprünglich sollte eigentlich der Premierminister aus dem Palast heraus regieren. Nach der Ernennung zum Staatspräsidenten verkündete Erdogan jedoch, dass dieser Regierungssitz in Zukunft dem Präsidenten vorbehalten sein würde.
Erdogan stellt sich nach 2014 und 2018 seiner dritten Präsidentschaftswahl und muss zum ersten Mal in einer Stichwahl antreten. In den beiden vergangenen Wahlen erreichte Erdogan bereits im ersten Wahlgang die notwendige Mehrheit. Dieses Mal waren es nur 49,5 Prozent. Sein Kontrahent in der Stichwahl ist Kemal Kilicdaroglu, der im ersten Wahlgang auf knapp 45 Prozent der Stimmen kam. Es ist deshalb sehr wahrscheinlich, dass Erdogan im zweiten Wahlgang die nötige Mehrheit erreichen wird.