Recep Tayyip Erdogan ist ein Phänomen. Die türkische Wirtschaft steckt in der Krise. Eine happige Inflation belastet das Portemonnaie der Menschen. Zwar ging sie seit dem letzten Herbst deutlich zurück, doch ein Wocheneinkauf koste heute so viel, wie eine Familie vor einigen Jahren im ganzen Monat ausgegeben habe, rechnete die NZZ vor.
Einen grossen Teil der Schuld trägt der Präsident, der die Zentralbank entmachtet und zu Zinssenkungen gezwungen hatte, obwohl in Zeiten stark steigender Preise das Gegenteil notwendig wäre. Das schwere Erdbeben im Februar hat zudem die Ineffizienz von Erdogans autoritärem System und das Ausmass der Korruption im türkischen Bausektor offenbart.
Aber hat das dem seit 20 Jahren regierenden Staatschef geschadet? Offenbar so gut wie gar nicht, wie die Wahlen vom Sonntag gezeigt haben. Recep Tayyip Erdogan verpasste die Wiederwahl in der ersten Runde nur knapp, während der in den Umfragen bis zuletzt führende Oppositionskandidat Kemal Kilicdaroglu enttäuschend abschnitt.
Nun wird die Entscheidung in der Stichwahl am 28. Mai fallen. Eine wichtige Rolle wird der unabhängige Kandidat Sinan Ogan spielen, der mit über 5 Prozent der Stimmen einen Achtungserfolg erzielte. Er ist Ultranationalist, aber auch Erdogan-Gegner. Selbst wenn er sich für Kilicdaroglu aussprechen sollte, bliebe der amtierende Präsident der klare Favorit.
Der 69-jährige Erdogan mag gesundheitlich und politisch angeschlagen sein, doch es scheint ihm allen Krisen zum Trotz immer noch zu gelingen, seine islamisch-konservative Wählerschaft zu mobilisieren. Eine wichtige Rolle spielen dabei Ressentiments gegen die säkularen «Kemalisten» und den Aleviten Kilicdaroglu sowie die Kontrolle der Medien.
Der Kandidat der oppositionellen CHP mag einen cleveren Wahlkampf betrieben haben, mit «Küchen-Videos» in den sozialen Medien. Aber auf dem Land informieren sich die Menschen in erster Linie durch das Fernsehen. Darin zelebrierte Erdogan seine Errungenschaften, vom ersten türkischen Elektroauto bis zum «Rückbau» der Hagia Sophia in eine Moschee.
Und trotzdem: Für Recep Tayyip Erdogan muss sich ein zweiter Wahlgang wie eine Niederlage anfühlen. Er entspricht nicht seinem Selbstverständnis als «starker Mann», der sich als Vermittler im Ukraine-Krieg zu profilieren versucht, die Nähe zu Wladimir Putin nicht scheut und den Westen provoziert, obwohl die Türkei ein NATO-Mitglied ist.
Noch ernüchternder für die Machthaber verliefen die Wahlen in Thailand, die ebenfalls am Sonntag stattfanden. Dort wurden die seit dem Putsch von 2014 faktisch regierenden Militärs mit Ex-General und Ministerpräsident Prayut Chan-o-cha von den 52 Millionen Wahlberechtigten abgestraft. Die prodemokratische Opposition errang einen klaren Sieg.
An der Spitze liegen etwas überraschend Pita Limjaroenrat und seine progressive, bei jungen Städtern beliebte Move-Forward-Partei, die die Abschaffung der Wehrpflicht und der harten Gesetze wegen Majestätsbeleidigung fordern. Sie trafen damit einen Nerv, denn der heutige König Rama X. ist weitaus umstrittener als sein jahrzehntelang regierender Vater.
Auf dem zweiten Platz landete die in den Umfragen lange führende Partei Pheu Thai von Paetongtarn Shinawatra. Sie ist die Tochter des Telekom-Milliardärs Thaksin Shinawatra und die Nichte von Yingluck Shinawatra. Der begnadete Populist und seine Schwester hatten in Thailand schon regiert und waren von der Armee gestürzt und ins Exil vertrieben worden.
Eine Koalition der siegreichen Parteien käme auf fast 300 der 500 Sitze im Parlament und damit eine scheinbar komfortable Mehrheit. Doch es gibt einen grossen Haken. Das Militär hat zur Absicherung seiner Macht einen Senat mit 250 Mitgliedern eingesetzt, die ernannt und nicht gewählt werden. Es ist fraglich, dass sie die Opposition unterstützen werden.
Erste Bemerkungen von Senatoren deuten laut der Zeitung «Bangkok Post» darauf hin, dass sie der amtierenden Regierung von Putsch-General Prayut trotz Niederlage beim Wahlvolk die Treue halten könnten. Das aber dürfte neue Proteste und Turbulenzen zur Folge haben, und davon gab es in der jüngeren Geschichte Thailands nicht wenige.
Ob Thailand oder Türkei: Manches deutet darauf hin, dass sich die «starken Männer» an der Macht halten. Aber sie schwächeln, im einen Land mehr als im anderen. Das ist weniger, als viele sich erhofft hatten. Der Weg zu einem echten Wandel ist eben häufig weit.