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Richtungsweisende Wahl: Türkei stimmt über Präsident und Parlament ab

Die Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen 2023 in der Türkei.
Die Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen 2023 in der Türkei.Bild: EPA

Richtungsweisende Wahl: Türkei stimmt über Präsident und Parlament ab

14.05.2023, 10:56
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In der Türkei hat eine richtungsweisende Wahl begonnen. Rund 61 Millionen Menschen sind am Sonntag dazu aufgerufen, über ein neues Parlament und den Präsidenten abzustimmen. Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan muss nach 20 Jahren an der Macht um seine Wiederwahl bangen.

Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Erdogan und seinem Herausforderer, dem Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, hin. Die Wahllokale schliessen um 17.00 Uhr (Ortszeit/16.00 MESZ). Mit belastbaren Ergebnissen wird am späten Sonntagabend deutscher Zeit gerechnet.

Die diesjährige Wahl findet in der Türkei in angespannter Atmosphäre statt. Es gibt Befürchtungen, dass Erdogan eine Niederlage nicht akzeptieren könnte. Am Freitag hatte der Präsident jedoch erklärt, das Ergebnis in jedem Fall anerkennen zu wollen.

Interesse an der Wahl bereits am Morgen gross

Das Interesse an der Wahl war bereits am Morgen gross. Im konservativen Istanbuler Bezirk Üsküdar bildeten sich lange Schlangen, wie ein dpa-Reporter berichtete. Eine Frau mittleren Alters, die sich als Sevinc vorstellte, sagte, die Wahl sei «leider das einzige Feld, in denen das Volk seine Freiheit nutzen kann». Sie hoffe auf eine hohe Beteiligung. Der 57-jährige Fikret Koc sagte, er unterstütze den «Anführer» Erdogan. Er habe die Türkei stark gemacht und vorangebracht.

Auch in der Erdbebenregion Adiyaman gingen die Menschen an die Urnen. Nach Einschätzung eines lokalen dpa-Mitarbeiters war der Andrang am Morgen aber verhaltener als in den vergangenen Jahren. Einige seien extra für die Wahl aus Notunterkünften an ihren früheren Wohnort gekommen. In den von den Erdbeben betroffenen Provinzen wird in Containern oder noch intakten Schulen abgestimmt. Nach den Beben in der Südosttürkei am 6. Februar mit Zehntausenden Toten war Kritik am Krisenmanagement der Regierung laut geworden.

Enwicklungen seit Einführung des Präsidialsystems

Seit der Einführung eines Präsidialsystems vor fünf Jahren hat der 69 Jahre alte Erdogan so viel Macht wie noch nie und kann weitestgehend am Parlament vorbei regieren. Kritiker befürchten, dass das Land mit rund 85 Millionen Einwohnern vollends in die Autokratie abgleiten könnte, sollte er erneut gewinnen. Auch international wird die Abstimmung in dem Nato-Land aufmerksam beobachtet.

Kilicdaroglu (74) ist Chef der sozialdemokratischen CHP und kandidiert für ein Bündnis aus sechs Parteien. Er verspricht die Rückkehr zum parlamentarischen System. Der dritte Kandidat, Sinan Ogan, hat keine Aussicht auf einen Sieg. Ein weiterer Herausforderer, Muharrem Ince, hatte sich aus dem Rennen zurückgezogen, sein Name steht aber noch auf dem Wahlzettel. Gewinnt keiner der Kandidaten in der ersten Runde die absolute Mehrheit, kommt es in zwei Wochen - am 28. Mai - zu einer Stichwahl.

Im Parlament hält Erdogans islamisch-konservative AKP zurzeit eine Mehrheit im Bündnis mit der ultranationalistischen MHP. Ob Erdogan diese halten kann, ist offen. Als Zünglein an der Waage gilt die prokurdische HDP. Sie gehört nicht zu Kilicdaroglus Sechser-Bündnis, unterstützt ihn aber bei der Präsidentenwahl.

Wahlkampf galt als unfair

Der Wahlkampf galt als unfair, vor allem wegen der medialen Übermacht der Regierung. Bestimmendes Thema war vor allem die schlechte wirtschaftliche Lage mit einer massiven Inflation. Erdogan versprach unter anderem eine Anhebung von Beamtengehältern und weitere Investitionen in die Rüstungsindustrie. Er führte eine aggressive Kampagne, beschimpfte die Opposition als «Terroristen» und äusserte sich feindlich gegenüber lesbischen, schwulen und queeren Menschen.

Ein beliebter Oppositionspolitiker war nur eine Woche vor der Wahl mit Steinen beworfen worden. Kilicdaroglu trug am Freitag bei einem Auftritt in der Erdogan-Hochburg Samsun eine kugelsichere Weste.

Meinung in Brüssel: Mit Kilicdaroglu kann alles besser werden

Kilicdaroglu gilt als besonnener Politiker. Er stammt aus der osttürkischen Provinz Tunceli und gehört der religiösen Minderheit der Aleviten an. Der Oppositionsführer will die Unabhängigkeit von Institutionen wie der Zentralbank wiederherstellen und die hohe Inflation in den Griff bekommen. Er steht für eine Wiederannäherung an Deutschland und die EU, aber auch für eine schärfere Migrationspolitik.

In der EU und in der Nato dürfte es kaum einen Spitzenpolitiker geben, der einen Machtwechsel in Ankara bedauern würde. Seitdem Erdogan den Putschversuch im Jahr 2016 als Vorwand für eine Einschränkung von Grundrechten nutzte und Oppositionelle und Journalisten inhaftieren liess, sind die Beziehungen eisig. Die EU legte Beitrittsverhandlungen und Gespräche über eine Erweiterung der bestehenden Zollunion auf Eis. Mit Kilicdaroglu kann das alles nur besser werden, lautet deswegen in Brüssel die vorherrschende Meinung.

Erdogans islamisch-konservative AKP kam 2002 an die Macht. Ein Jahr später wurde Erdogan Ministerpräsident, seit 2014 ist er Staatspräsident. In seinen ersten Regierungsjahren galt er als Reformer und sorgte für einen wirtschaftlichen Aufschwung. Viele seiner eigenen Reformen hat Erdogan inzwischen zurückgedreht. Die regierungskritischen Gezi-Proteste, die sich in zwei Wochen zum zehnten Mal jähren, liess Erdogan niederschlagen. (sda/dpa)

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