Dima mag Krafttraining und Biertrinken mit Freunden. Aber wie Zehntausende, vielleicht gar Hunderttausende ukrainische Männer, verzichtet er auf seine Lieblingsbeschäftigungen. Er will nicht riskieren, auf dem Weg zum Fitnesszentrum oder zur Bar kontrolliert zu werden. Weil seine Militärpapiere nicht in Ordnung sind, könnte er zwangsrekrutiert und an die Front geschickt werden. Darum bleibt er vorwiegend in seiner dunklen Wohnung und schickt Bekannte nach draussen, um Einkäufe zu erledigen. Bier trinken kann er nur noch zuhause.
Sanktionen haben nicht nur Wehrdienstverweigerer, sondern auch Fahnenflüchtige zu gewärtigen. Deserteuren droht gemäss ukrainischem Recht eine Gefängnisstrafe von fünf bis zwölf Jahren. Die Justiz unterscheidet Fälle von Fahnenflucht, wenn jemand permanent seinen Posten verlässt und untertaucht. Dann spricht man in der Ukraine von Desertion. Anders ist es, wenn ein Soldat seine Einheit unerlaubt verlässt, zum Beispiel für eine Spitalbehandlung, für die Hochzeit seiner Tochter, oder weil er sich in einer anderen Truppeneinheit besser aufgehoben fühlt. Dauert die Abwesenheit länger als drei Tage, riskiert man eine Freiheitsstrafe von fünf bis zehn Jahren.
Naturgemäss sprechen solche Leute nicht gerne mit Journalisten – und schon gar nicht mit ausländischen. Ein Mittelsmann kann jedoch mit zwei Deserteuren Kontakt aufnehmen und sie befragen. Alexander meldete sich zum Beispiel 2022 freiwillig zum Wehrdienst. Er wurde zuerst beim Grenzschutz an der Donau eingeteilt und später im Norden des Landes. Damit hatte er kein Problem. Doch ein paar Monate später wurde der heute 27-Jährige zu einer Kampfeinheit im Oblast Donezk versetzt. Als Alexander im Osten zum ersten Mal in einem Schützengraben sass, explodierte eine russische Drohne in seiner Nähe. Im Schock flüchtete er und verstauchte sich dabei den Fuss. Trotz der gegenteiligen Befehle seines Kommandeurs setzte er sich in die Hauptstadt Kiew ab, um seine Verletzung behandeln zu lassen. Seither ist er untergetaucht.
Der 38-jährige Andrej wurde auf der Fahrt von der Hafenstadt Odessa in seine Heimatregion kontrolliert und eingezogen. Daraufhin absolvierte er die militärische Grundausbildung. Weil Andrej offensichtlich begabt war, wurde er in die Offiziersschule geschickt. Dort überkam ihn aber die Angst, an die Front beordert zu werden. Noch während der Ausbildung wurde er deshalb fahnenflüchtig und hält sich seither in einer Mietwohnung versteckt.
Laut in den ukrainischen Medien zitierten Statistiken der Generalstaatsanwaltschaft geht es inzwischen um 253’000 Strafverfahren, von denen 50’000 auf Desertionen und etwas mehr als 200’000 auf unerlaubtes Entfernen von der Truppe entfallen. Zum Vergleich: Es wird geschätzt, dass die ukrainischen Streitkräfte derzeit etwa 900’000 bis 1’000’000 Männer und Frauen unter Waffen halten, wobei Frauen nicht wehrpflichtig sind.
Das Thema ist auch für die russische Propaganda wichtig, die je nach Quelle von einer Gesamtzahl von 400’000 Fällen bzw. 17’000 Desertionen pro Monat spricht. Diese Angaben sind mit Sicherheit stark übertrieben. Dennoch ist die Entwicklung für Kiew besorgniserregend. So sollen 2024 insgesamt rund 200’000 Soldaten neu mobilisiert worden sein, während im selben Zeitraum fast 68’000 Strafverfahren wegen Verdachts auf unerlaubtes Entfernen von der Truppe und mehr als 23’000 wegen Fahnenflucht eröffnet wurden. Die meisten Fälle betreffen die frontnahen Regionen im Osten und Süden des Landes.
Grosse Beachtung fand in der Öffentlichkeit der Fall des Soldaten Serhij Hnesdilow. 2019 meldete er sich bei der Armee als Freiwilliger und hängte seine Journalismusausbildung an den Nagel. Von 2022 an kämpfte er im Osten und machte sich in den sozialen Medien einen Namen – unter anderem mit Podcasts, in denen er mit seinen Kampfgefährten über das Leben im Krieg sprach. Vor knapp einem Jahr kündigte er auf Facebook an, dass er seine Brigade verlassen werde, um eine öffentliche Diskussion anzustossen – über den endlosen Kriegsdienst, den Freiwillige und Zwangsrekrutierte gleichermassen zu leisten hätten.
Dies ist vielen Ukrainern schon lange ein Dorn im Auge: Es ist kein Ende des Kriegs und damit des Militärdiensts absehbar. Frontsoldaten wird nur selten Ferien gewährt. Noch weniger oft werden abgekämpfte und dezimierte Truppeneinheiten gegen frische Soldaten ausgewechselt. Auf der anderen Seite feiern junge Männer in den grossen Städten ausgelassen Partys und drücken sich vom Wehrdienst, zum Teil mit Bestechung. Allerdings greift die Wehrpflicht für Männer erst im Alter von 25 Jahren – ein weltweites Unikum.
Der inzwischen 25-jährige Hnesdilow wurde ein paar Wochen nach seiner Fahnenflucht festgenommen. Im Januar entliess ein Gericht Hnesdilow aber aus der Untersuchungshaft, weil er sich bereit erklärt hatte, in seine Einheit zurückzukehren. In seine Zeit im Gefängnis fiel eine wichtige Umwälzung: Das Parlament entschied, Soldaten, die sich zum ersten Mal unerlaubt von der Truppe entfernt hatten, zu amnestieren, falls sie bis Ende August 2025 ihren Wehrdienst wieder aufnähmen. Dies haben laut offiziellen Angaben inzwischen rund 29’000 Soldaten getan.
Ein Besuch im dritten Rekrutierungszentrum der ukrainischen Kriegsmarine in Odessa verdeutlicht die Bemühungen der Streitkräfte, untergetauchte Soldaten wieder für den Dienst zu gewinnen. Das Zentrum befindet sich in einer oberen Etage eines Geschäftsgebäudes. Das Büro ist durch blaue Jalousien verdunkelt, auf denen ein Anker und der ukrainische Dreizack, das Nationalsymbol, abgebildet ist. Ein paar Topfpflanzen geben dem Raum einen zivilen Anstrich.
Dmitro, ein hier arbeitender Offizier, erzählt, dass das Büro pro Tag etwa 20 Anrufe von Interessenten erhält. «Wir stellen den untergetauchten Soldaten Fragen zu ihrem Alter, Gesundheitszustand, Ausbildung und Beruf im Zivilleben. Wir fragen auch, in welcher Truppengattung sie gerne wieder Dienst leisten möchten.» Danach nimmt Dmitro Kontakt auf mit einer der neun Brigaden, die mit dem Marinezentrum zusammenarbeiten. «Wenn eine Brigade den Kandidaten gebrauchen kann, rufen wir ihn an und setzen ihn in Verbindung mit seiner künftigen Truppe.» Wenn alles gut gehe, gebe es noch etwas Papierkrieg, und der Fall sei erledigt.
(aargauerzeitung.ch)
Was die RUSSEN ihrerseits mit solchen Soldaten anstellen ist in unzähligen Videos bestens dokumentiert. Es findet eine völlige Entmenschlichung statt, ungezügelte Gewalt und sadistische Brutalität sind mittlerweile an der Tagesordnung in der russischen Armee.